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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, fünftes Capitel.
schielende Farbe gebe, beschuldigen werden. Wir ha-
ben uns schon mehrmalen erklärt, daß wir in diesem
Werke die Pflichten eines Geschichtschreibers und nicht
eines Apologisten übernommen haben; indessen bleibt
uns doch erlaubt, von den Handlungen eines Mannes,
dessen Leben wir zwar nicht für ein Muster, aber doch
für ein lehrreiches Beyspiel geben, eben so frey nach un-
serm Gesichtspunct zu urtheilen, als es unsre Leser aus
dem ihrigen thun mögen. Was also den ersten Punct
betrift, so haben wir bereits erinnert, daß es unbillig
seyn würde, dasjenige was Agathon wider die Republi-
ken seiner Zeit gesprochen, für eine, von ihm gewiß
nicht abgezielte, Beleidigung solcher Freystaaten anzu-
sehen, welche (wie er als möglich erkannt hat) un-
ter dem Einfluß günstiger Umstände, durch ihre Lage
selbst vor auswärtigem Neid, und vor ausschweiffenden
Vergrösserungs-Gedanken gesichert, durch weise Geseze,
und was noch mehr ist, durch die Macht der Gewohn-
heit, in einer glükseligen Mittelmässigkeit fortdauern,
und die Gebrechen kaum dem Namen nach kennen,
welche Agathon an den Republiken seiner Zeit für un-
heilbar angesehen. Ob er aber diesen leztern zuviel ge-
than habe, mögen diejenigen entscheiden, welche mit
den besondern Umständen ihrer Geschichte bekannt sind.
Hat die Empfindung des Unrechts, welches ihm selbst
zu Athen zugefügt worden, etwas Galle in seine Critik
gemischt; so ersuchen wir unsre Leser (nicht dem Aga-
thon zu lieb; denn was kan diesem durch ihre Meynung
von ihm zu- oder abgehen?) sich an seinen Plaz zu stel-

len,

Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
ſchielende Farbe gebe, beſchuldigen werden. Wir ha-
ben uns ſchon mehrmalen erklaͤrt, daß wir in dieſem
Werke die Pflichten eines Geſchichtſchreibers und nicht
eines Apologiſten uͤbernommen haben; indeſſen bleibt
uns doch erlaubt, von den Handlungen eines Mannes,
deſſen Leben wir zwar nicht fuͤr ein Muſter, aber doch
fuͤr ein lehrreiches Beyſpiel geben, eben ſo frey nach un-
ſerm Geſichtspunct zu urtheilen, als es unſre Leſer aus
dem ihrigen thun moͤgen. Was alſo den erſten Punct
betrift, ſo haben wir bereits erinnert, daß es unbillig
ſeyn wuͤrde, dasjenige was Agathon wider die Republi-
ken ſeiner Zeit geſprochen, fuͤr eine, von ihm gewiß
nicht abgezielte, Beleidigung ſolcher Freyſtaaten anzu-
ſehen, welche (wie er als moͤglich erkannt hat) un-
ter dem Einfluß guͤnſtiger Umſtaͤnde, durch ihre Lage
ſelbſt vor auswaͤrtigem Neid, und vor ausſchweiffenden
Vergroͤſſerungs-Gedanken geſichert, durch weiſe Geſeze,
und was noch mehr iſt, durch die Macht der Gewohn-
heit, in einer gluͤkſeligen Mittelmaͤſſigkeit fortdauern,
und die Gebrechen kaum dem Namen nach kennen,
welche Agathon an den Republiken ſeiner Zeit fuͤr un-
heilbar angeſehen. Ob er aber dieſen leztern zuviel ge-
than habe, moͤgen diejenigen entſcheiden, welche mit
den beſondern Umſtaͤnden ihrer Geſchichte bekannt ſind.
Hat die Empfindung des Unrechts, welches ihm ſelbſt
zu Athen zugefuͤgt worden, etwas Galle in ſeine Critik
gemiſcht; ſo erſuchen wir unſre Leſer (nicht dem Aga-
thon zu lieb; denn was kan dieſem durch ihre Meynung
von ihm zu- oder abgehen?) ſich an ſeinen Plaz zu ſtel-

len,
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[187/0189] Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. ſchielende Farbe gebe, beſchuldigen werden. Wir ha- ben uns ſchon mehrmalen erklaͤrt, daß wir in dieſem Werke die Pflichten eines Geſchichtſchreibers und nicht eines Apologiſten uͤbernommen haben; indeſſen bleibt uns doch erlaubt, von den Handlungen eines Mannes, deſſen Leben wir zwar nicht fuͤr ein Muſter, aber doch fuͤr ein lehrreiches Beyſpiel geben, eben ſo frey nach un- ſerm Geſichtspunct zu urtheilen, als es unſre Leſer aus dem ihrigen thun moͤgen. Was alſo den erſten Punct betrift, ſo haben wir bereits erinnert, daß es unbillig ſeyn wuͤrde, dasjenige was Agathon wider die Republi- ken ſeiner Zeit geſprochen, fuͤr eine, von ihm gewiß nicht abgezielte, Beleidigung ſolcher Freyſtaaten anzu- ſehen, welche (wie er als moͤglich erkannt hat) un- ter dem Einfluß guͤnſtiger Umſtaͤnde, durch ihre Lage ſelbſt vor auswaͤrtigem Neid, und vor ausſchweiffenden Vergroͤſſerungs-Gedanken geſichert, durch weiſe Geſeze, und was noch mehr iſt, durch die Macht der Gewohn- heit, in einer gluͤkſeligen Mittelmaͤſſigkeit fortdauern, und die Gebrechen kaum dem Namen nach kennen, welche Agathon an den Republiken ſeiner Zeit fuͤr un- heilbar angeſehen. Ob er aber dieſen leztern zuviel ge- than habe, moͤgen diejenigen entſcheiden, welche mit den beſondern Umſtaͤnden ihrer Geſchichte bekannt ſind. Hat die Empfindung des Unrechts, welches ihm ſelbſt zu Athen zugefuͤgt worden, etwas Galle in ſeine Critik gemiſcht; ſo erſuchen wir unſre Leſer (nicht dem Aga- thon zu lieb; denn was kan dieſem durch ihre Meynung von ihm zu- oder abgehen?) ſich an ſeinen Plaz zu ſtel- len,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/189>, abgerufen am 25.04.2024.