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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, fünftes Capitel.
mehr hören liessen, nicht sehr unterrichtet wurden, so
fanden sie sich doch durch die Wolredenheit des einen,
die klingende Stimme und den guten Accent eines an-
dern, die paradoxen Einfälle eines dritten, und die selt-
samen Gesichter, die ein vierter zu seinen Distinctionen
und Demonstrationen machte, erträglich belustiget. Nach-
dem dieses Spiel einige Zeit gedauert hatte, und ein un-
höfliches Gähnen bereits zwey Drittheile der Zuhörer
zu ergreiffen begann, sagte Dionys: Da er das Glük
habe, seit einigen Tagen einen der würdigsten Schüler
des grossen Platons in seinem Hause zu besizen; so er-
suchte er ihn, zufrieden zu seyn, daß der Ruhm, der
ihm allenthalben vorangegangen sey, den Schleyer, wo-
mit seine Bescheidenheit seine Veridienste zu verhüllen
suche, hinweggezogen, und ihm in dem schönen Aga-
thon einen der beredtesten Weisen der Zeit entdekt habe:
Er möchte sich also nicht weigern, auch in Syracus sich
von einer so vortheilhaften Seite zu zeigen, uud sich
mit den Philosophen seiner Academie in einen Wettstreit
über irgend eine interessante Frage aus der Philosophie
einzulassen. Zu gutem Glüke sprach Dionys, der sich
selbst gerne hörte, und die Gabe der Weitläufigkeit in
hohem Maasse besaß, lange genug, um unserm Manne
Zeit zu geben, sich von der kleinen Bestürzung zu er-
holen, worein ihn diese unerwartete Zumuthung sezte.
Er antwortete also ohne Zaudern: Er sey zu früh aus
den Hörsälen der Weisen auf den Markt-Plaz zu Athen
geruffen, und in die Angelegenheiten eines Volkes, wel-
ches bekannter massen seinen Hofmeistern nicht wenig zu

schaffen

Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
mehr hoͤren lieſſen, nicht ſehr unterrichtet wurden, ſo
fanden ſie ſich doch durch die Wolredenheit des einen,
die klingende Stimme und den guten Accent eines an-
dern, die paradoxen Einfaͤlle eines dritten, und die ſelt-
ſamen Geſichter, die ein vierter zu ſeinen Diſtinctionen
und Demonſtrationen machte, ertraͤglich beluſtiget. Nach-
dem dieſes Spiel einige Zeit gedauert hatte, und ein un-
hoͤfliches Gaͤhnen bereits zwey Drittheile der Zuhoͤrer
zu ergreiffen begann, ſagte Dionys: Da er das Gluͤk
habe, ſeit einigen Tagen einen der wuͤrdigſten Schuͤler
des groſſen Platons in ſeinem Hauſe zu beſizen; ſo er-
ſuchte er ihn, zufrieden zu ſeyn, daß der Ruhm, der
ihm allenthalben vorangegangen ſey, den Schleyer, wo-
mit ſeine Beſcheidenheit ſeine Veridienſte zu verhuͤllen
ſuche, hinweggezogen, und ihm in dem ſchoͤnen Aga-
thon einen der beredteſten Weiſen der Zeit entdekt habe:
Er moͤchte ſich alſo nicht weigern, auch in Syracus ſich
von einer ſo vortheilhaften Seite zu zeigen, uud ſich
mit den Philoſophen ſeiner Academie in einen Wettſtreit
uͤber irgend eine intereſſante Frage aus der Philoſophie
einzulaſſen. Zu gutem Gluͤke ſprach Dionys, der ſich
ſelbſt gerne hoͤrte, und die Gabe der Weitlaͤufigkeit in
hohem Maaſſe beſaß, lange genug, um unſerm Manne
Zeit zu geben, ſich von der kleinen Beſtuͤrzung zu er-
holen, worein ihn dieſe unerwartete Zumuthung ſezte.
Er antwortete alſo ohne Zaudern: Er ſey zu fruͤh aus
den Hoͤrſaͤlen der Weiſen auf den Markt-Plaz zu Athen
geruffen, und in die Angelegenheiten eines Volkes, wel-
ches bekannter maſſen ſeinen Hofmeiſtern nicht wenig zu

ſchaffen
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[175/0177] Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. mehr hoͤren lieſſen, nicht ſehr unterrichtet wurden, ſo fanden ſie ſich doch durch die Wolredenheit des einen, die klingende Stimme und den guten Accent eines an- dern, die paradoxen Einfaͤlle eines dritten, und die ſelt- ſamen Geſichter, die ein vierter zu ſeinen Diſtinctionen und Demonſtrationen machte, ertraͤglich beluſtiget. Nach- dem dieſes Spiel einige Zeit gedauert hatte, und ein un- hoͤfliches Gaͤhnen bereits zwey Drittheile der Zuhoͤrer zu ergreiffen begann, ſagte Dionys: Da er das Gluͤk habe, ſeit einigen Tagen einen der wuͤrdigſten Schuͤler des groſſen Platons in ſeinem Hauſe zu beſizen; ſo er- ſuchte er ihn, zufrieden zu ſeyn, daß der Ruhm, der ihm allenthalben vorangegangen ſey, den Schleyer, wo- mit ſeine Beſcheidenheit ſeine Veridienſte zu verhuͤllen ſuche, hinweggezogen, und ihm in dem ſchoͤnen Aga- thon einen der beredteſten Weiſen der Zeit entdekt habe: Er moͤchte ſich alſo nicht weigern, auch in Syracus ſich von einer ſo vortheilhaften Seite zu zeigen, uud ſich mit den Philoſophen ſeiner Academie in einen Wettſtreit uͤber irgend eine intereſſante Frage aus der Philoſophie einzulaſſen. Zu gutem Gluͤke ſprach Dionys, der ſich ſelbſt gerne hoͤrte, und die Gabe der Weitlaͤufigkeit in hohem Maaſſe beſaß, lange genug, um unſerm Manne Zeit zu geben, ſich von der kleinen Beſtuͤrzung zu er- holen, worein ihn dieſe unerwartete Zumuthung ſezte. Er antwortete alſo ohne Zaudern: Er ſey zu fruͤh aus den Hoͤrſaͤlen der Weiſen auf den Markt-Plaz zu Athen geruffen, und in die Angelegenheiten eines Volkes, wel- ches bekannter maſſen ſeinen Hofmeiſtern nicht wenig zu ſchaffen

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/177>, abgerufen am 28.03.2024.