Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Neuntes Buch, fünftes Capitel. finden; vielleicht allein, weil seine Art, Personen undSachen ins Auge zu fassen, seit einiger Zeit eine merk- liche Veränderung erlidten hatte. Ein Umgang von et- lichen Stunden lösete beyden das Räthsel ihres anfäng- lichen Jrthums auf, zerstreute den Rest des alten Vorur- theils, und flößte ihnen Dispositionen ein, bessere Freunde zu werden. Unvermerkt erinnerten sie sich nicht mehr, daß sie einander ehmals weniger gefallen hatten; und ihr Herz liebte den kleinen Selbstbetrug, dasjenige was sie izt für einander empfanden, für die blosse Erneuerung einer alten Freundschaft zu halten. Aristipp fand bey unserm Helden, eine Gefälligkeit, eine Politesse, eine Mässigung, welche ihm zu beweisen schien, daß Erfahrungen von mehr als einer Art eine starke Revolution in seinem Gemüthe gewürkt haben mußten. Agathon fand bey dem Philosophen von Cy- rene etwas mehr als Wiz, einen Beobachtungs-Geist, eine gesunde Art zu denken, eine Feinheit und Richtig- keit der Beurtheilung, welche den Schüler des wei- sen Socrates in ihm erkennen liessen. Diese Entdekun- gen flösseten ihnen natürlicher Weise ein gegenseitiges Zu- trauen ein, welches sie geneigt machte, sich weniger vor einander zu verbergen, als man bey einer ersten Zu- sammenkunft zu thun gewohnt ist. Agathon ließ seinem neuen Freunde sein Erstaunen darüber sehen, daß die Hofnungen, welche man sich zum Vortheil Siciliens von Platons Ansehen bey dem Dionys gemacht, so plöz- lich, und auf eine so unbegreifliche Art, vernichtet wor- den. Jn der That bestuhnd alles was man in der Stadt davon
Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. finden; vielleicht allein, weil ſeine Art, Perſonen undSachen ins Auge zu faſſen, ſeit einiger Zeit eine merk- liche Veraͤnderung erlidten hatte. Ein Umgang von et- lichen Stunden loͤſete beyden das Raͤthſel ihres anfaͤng- lichen Jrthums auf, zerſtreute den Reſt des alten Vorur- theils, und floͤßte ihnen Diſpoſitionen ein, beſſere Freunde zu werden. Unvermerkt erinnerten ſie ſich nicht mehr, daß ſie einander ehmals weniger gefallen hatten; und ihr Herz liebte den kleinen Selbſtbetrug, dasjenige was ſie izt fuͤr einander empfanden, fuͤr die bloſſe Erneuerung einer alten Freundſchaft zu halten. Ariſtipp fand bey unſerm Helden, eine Gefaͤlligkeit, eine Politeſſe, eine Maͤſſigung, welche ihm zu beweiſen ſchien, daß Erfahrungen von mehr als einer Art eine ſtarke Revolution in ſeinem Gemuͤthe gewuͤrkt haben mußten. Agathon fand bey dem Philoſophen von Cy- rene etwas mehr als Wiz, einen Beobachtungs-Geiſt, eine geſunde Art zu denken, eine Feinheit und Richtig- keit der Beurtheilung, welche den Schuͤler des wei- ſen Socrates in ihm erkennen lieſſen. Dieſe Entdekun- gen floͤſſeten ihnen natuͤrlicher Weiſe ein gegenſeitiges Zu- trauen ein, welches ſie geneigt machte, ſich weniger vor einander zu verbergen, als man bey einer erſten Zu- ſammenkunft zu thun gewohnt iſt. Agathon ließ ſeinem neuen Freunde ſein Erſtaunen daruͤber ſehen, daß die Hofnungen, welche man ſich zum Vortheil Siciliens von Platons Anſehen bey dem Dionys gemacht, ſo ploͤz- lich, und auf eine ſo unbegreifliche Art, vernichtet wor- den. Jn der That beſtuhnd alles was man in der Stadt davon
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Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
finden; vielleicht allein, weil ſeine Art, Perſonen und
Sachen ins Auge zu faſſen, ſeit einiger Zeit eine merk-
liche Veraͤnderung erlidten hatte. Ein Umgang von et-
lichen Stunden loͤſete beyden das Raͤthſel ihres anfaͤng-
lichen Jrthums auf, zerſtreute den Reſt des alten Vorur-
theils, und floͤßte ihnen Diſpoſitionen ein, beſſere
Freunde zu werden. Unvermerkt erinnerten ſie ſich
nicht mehr, daß ſie einander ehmals weniger gefallen
hatten; und ihr Herz liebte den kleinen Selbſtbetrug,
dasjenige was ſie izt fuͤr einander empfanden, fuͤr die
bloſſe Erneuerung einer alten Freundſchaft zu halten.
Ariſtipp fand bey unſerm Helden, eine Gefaͤlligkeit, eine
Politeſſe, eine Maͤſſigung, welche ihm zu beweiſen
ſchien, daß Erfahrungen von mehr als einer Art eine
ſtarke Revolution in ſeinem Gemuͤthe gewuͤrkt haben
mußten. Agathon fand bey dem Philoſophen von Cy-
rene etwas mehr als Wiz, einen Beobachtungs-Geiſt,
eine geſunde Art zu denken, eine Feinheit und Richtig-
keit der Beurtheilung, welche den Schuͤler des wei-
ſen Socrates in ihm erkennen lieſſen. Dieſe Entdekun-
gen floͤſſeten ihnen natuͤrlicher Weiſe ein gegenſeitiges Zu-
trauen ein, welches ſie geneigt machte, ſich weniger vor
einander zu verbergen, als man bey einer erſten Zu-
ſammenkunft zu thun gewohnt iſt. Agathon ließ ſeinem
neuen Freunde ſein Erſtaunen daruͤber ſehen, daß die
Hofnungen, welche man ſich zum Vortheil Siciliens
von Platons Anſehen bey dem Dionys gemacht, ſo ploͤz-
lich, und auf eine ſo unbegreifliche Art, vernichtet wor-
den. Jn der That beſtuhnd alles was man in der Stadt
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