Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Agathon. eines ganzen Landes von dem zufälligen und wenigsichern Umstand, ob dieser Einzige tugendhaft seyn wolle oder nicht, abhangen zu lassen. Er gieng so weit, zu behaupten, daß von einem Menschen, der die höchste Macht in Händen habe, zu verlangen, daß er sie nie- malen mißbrauchen solle, eine Forderung sey, welche über die Kräfte der Menschheit gehe; daß es nichts ge- ringers sey, als von einem mit Mängeln und Schwach- heiten beladenen Geschöpfe, welches keinen Augenblik auf sich selbst zählen kan, die Weisheit und Tugend eines Gottes zu erwarten. Er billigte also das Vorhaben des Dionys, die königliche Gewalt aufzugeben, im höch- sten Grade; aber darinn stimmte er mit seinem Freunde überein, daß anstatt die Einrichtung des Staats in die Willkühr des Volks zu stellen, er selbst, mit Zuzug der Besten von der Nation, sich ungesäumt der Arbeit un- terziehen sollte, eine daurhafte und auf den möglichsten Grad des allgemeinen Besten abzielende Verfassung zu entwerfen; wozu er dem Prinzen allen Beystand, der von ihm abhange, versprach. Dionys schien sich diesen Vorschlag gefallen zu lassen. Er bat sie, ihre Gedan- ken über diese wichtige Sache in einen vollständigen Plan zu bringen, und versprach, so bald als sie selbsten dar- über, was man thun sollte, einig seyn würden, zur Ausführung eines Werkes zu schreiten, welches ihm, seinem Vorgeben nach, sehr am Herzen lag. Diese geheime Conferenz hatte bey dem Tyrannen gegen
Agathon. eines ganzen Landes von dem zufaͤlligen und wenigſichern Umſtand, ob dieſer Einzige tugendhaft ſeyn wolle oder nicht, abhangen zu laſſen. Er gieng ſo weit, zu behaupten, daß von einem Menſchen, der die hoͤchſte Macht in Haͤnden habe, zu verlangen, daß er ſie nie- malen mißbrauchen ſolle, eine Forderung ſey, welche uͤber die Kraͤfte der Menſchheit gehe; daß es nichts ge- ringers ſey, als von einem mit Maͤngeln und Schwach- heiten beladenen Geſchoͤpfe, welches keinen Augenblik auf ſich ſelbſt zaͤhlen kan, die Weisheit und Tugend eines Gottes zu erwarten. Er billigte alſo das Vorhaben des Dionys, die koͤnigliche Gewalt aufzugeben, im hoͤch- ſten Grade; aber darinn ſtimmte er mit ſeinem Freunde uͤberein, daß anſtatt die Einrichtung des Staats in die Willkuͤhr des Volks zu ſtellen, er ſelbſt, mit Zuzug der Beſten von der Nation, ſich ungeſaͤumt der Arbeit un- terziehen ſollte, eine daurhafte und auf den moͤglichſten Grad des allgemeinen Beſten abzielende Verfaſſung zu entwerfen; wozu er dem Prinzen allen Beyſtand, der von ihm abhange, verſprach. Dionys ſchien ſich dieſen Vorſchlag gefallen zu laſſen. Er bat ſie, ihre Gedan- ken uͤber dieſe wichtige Sache in einen vollſtaͤndigen Plan zu bringen, und verſprach, ſo bald als ſie ſelbſten dar- uͤber, was man thun ſollte, einig ſeyn wuͤrden, zur Ausfuͤhrung eines Werkes zu ſchreiten, welches ihm, ſeinem Vorgeben nach, ſehr am Herzen lag. Dieſe geheime Conferenz hatte bey dem Tyrannen gegen
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0138" n="136"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/> eines ganzen Landes von dem zufaͤlligen und wenig<lb/> ſichern Umſtand, ob dieſer Einzige tugendhaft ſeyn<lb/> wolle oder nicht, abhangen zu laſſen. Er gieng ſo weit,<lb/> zu behaupten, daß von einem Menſchen, der die hoͤchſte<lb/> Macht in Haͤnden habe, zu verlangen, daß er ſie nie-<lb/> malen mißbrauchen ſolle, eine Forderung ſey, welche<lb/> uͤber die Kraͤfte der Menſchheit gehe; daß es nichts ge-<lb/> ringers ſey, als von einem mit Maͤngeln und Schwach-<lb/> heiten beladenen Geſchoͤpfe, welches keinen Augenblik<lb/> auf ſich ſelbſt zaͤhlen kan, die Weisheit und Tugend eines<lb/> Gottes zu erwarten. Er billigte alſo das Vorhaben<lb/> des Dionys, die koͤnigliche Gewalt aufzugeben, im hoͤch-<lb/> ſten Grade; aber darinn ſtimmte er mit ſeinem Freunde<lb/> uͤberein, daß anſtatt die Einrichtung des Staats in die<lb/> Willkuͤhr des Volks zu ſtellen, er ſelbſt, mit Zuzug der<lb/> Beſten von der Nation, ſich ungeſaͤumt der Arbeit un-<lb/> terziehen ſollte, eine daurhafte und auf den moͤglichſten<lb/> Grad des allgemeinen Beſten abzielende Verfaſſung zu<lb/> entwerfen; wozu er dem Prinzen allen Beyſtand, der<lb/> von ihm abhange, verſprach. Dionys ſchien ſich dieſen<lb/> Vorſchlag gefallen zu laſſen. Er bat ſie, ihre Gedan-<lb/> ken uͤber dieſe wichtige Sache in einen vollſtaͤndigen Plan<lb/> zu bringen, und verſprach, ſo bald als ſie ſelbſten dar-<lb/> uͤber, was man thun ſollte, einig ſeyn wuͤrden, zur<lb/> Ausfuͤhrung eines Werkes zu ſchreiten, welches ihm,<lb/> ſeinem Vorgeben nach, ſehr am Herzen lag.</p><lb/> <p>Dieſe geheime Conferenz hatte bey dem Tyrannen<lb/> eine gedoppelte Wuͤrkung. Sie vollendete ſeinen Haß<lb/> <fw place="bottom" type="catch">gegen</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [136/0138]
Agathon.
eines ganzen Landes von dem zufaͤlligen und wenig
ſichern Umſtand, ob dieſer Einzige tugendhaft ſeyn
wolle oder nicht, abhangen zu laſſen. Er gieng ſo weit,
zu behaupten, daß von einem Menſchen, der die hoͤchſte
Macht in Haͤnden habe, zu verlangen, daß er ſie nie-
malen mißbrauchen ſolle, eine Forderung ſey, welche
uͤber die Kraͤfte der Menſchheit gehe; daß es nichts ge-
ringers ſey, als von einem mit Maͤngeln und Schwach-
heiten beladenen Geſchoͤpfe, welches keinen Augenblik
auf ſich ſelbſt zaͤhlen kan, die Weisheit und Tugend eines
Gottes zu erwarten. Er billigte alſo das Vorhaben
des Dionys, die koͤnigliche Gewalt aufzugeben, im hoͤch-
ſten Grade; aber darinn ſtimmte er mit ſeinem Freunde
uͤberein, daß anſtatt die Einrichtung des Staats in die
Willkuͤhr des Volks zu ſtellen, er ſelbſt, mit Zuzug der
Beſten von der Nation, ſich ungeſaͤumt der Arbeit un-
terziehen ſollte, eine daurhafte und auf den moͤglichſten
Grad des allgemeinen Beſten abzielende Verfaſſung zu
entwerfen; wozu er dem Prinzen allen Beyſtand, der
von ihm abhange, verſprach. Dionys ſchien ſich dieſen
Vorſchlag gefallen zu laſſen. Er bat ſie, ihre Gedan-
ken uͤber dieſe wichtige Sache in einen vollſtaͤndigen Plan
zu bringen, und verſprach, ſo bald als ſie ſelbſten dar-
uͤber, was man thun ſollte, einig ſeyn wuͤrden, zur
Ausfuͤhrung eines Werkes zu ſchreiten, welches ihm,
ſeinem Vorgeben nach, ſehr am Herzen lag.
Dieſe geheime Conferenz hatte bey dem Tyrannen
eine gedoppelte Wuͤrkung. Sie vollendete ſeinen Haß
gegen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/138 |
Zitationshilfe: | Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/138>, abgerufen am 16.02.2025. |