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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
Mangel an angenehmen Eindrüken uns in einen be-
schwerlichen Mittelstand zwischen Seyn und Nichtseyn
versenkt --- in einem solchen Zustande, ist die Seele be-
gierig, einen jeden Gegenstand zu umfassen, der sie
aus diesem unleidlichen Stillstand ihrer Kräfte ziehen
kan, und also am besten aufgelegt, den Reiz sittlicher
und intellectualischer Schönheiten zu empfinden. Aller-
dings würde ein trokner Zergliederer metaphysischer Be-
griffe sich nicht dazu geschikt haben, solche Gegen-
stände für einen Menschen zu zurichten, der zu einer
scharfen Aufmerksamkeit eben so ungeduldig als unver-
mögend war. Allein die Beredsamkeit des Homers
der Philosophen wußte sie auf eine so reizende Art für
die Einbildungs-Kraft zu vercörpern, wußte die Lei-
denschaften und innersten Triebe des Herzens so geschikt
für sie ins Spiel zu sezen, daß sie nicht anders als ge-
fallen und rühren konnten. Hiezu kam noch die Jugend
des Tyrannen, welche seine noch nicht verhärtete Seele
neuer Eindrüke fähig machte. Warum sollte es also
nicht möglich gewesen seyn, ihm unter solchen Umstän-
den auf etliche Wochen die Liebe der Tugend einzuflös-
sen, da hiezu weiter nichts nöthig war, als seinen
Neigungen unvermerkt andre Gegenstände an die Stelle
derjenigen, deren er überdrüssig war, zu unterschie-
ben --- Denn in der That war seine Bekehrung nichts
anders, als daß er nunmehr, anstatt irgend einer Wol-
lust-athmenden Nymphe, ein schönes Phantom der Tu-
gend umarmte, und statt in Syracusischem Weine sich
in platonischen Jdeen berauschte --- und daß eben diese

Eitelkeit,

Agathon.
Mangel an angenehmen Eindruͤken uns in einen be-
ſchwerlichen Mittelſtand zwiſchen Seyn und Nichtſeyn
verſenkt ‒‒‒ in einem ſolchen Zuſtande, iſt die Seele be-
gierig, einen jeden Gegenſtand zu umfaſſen, der ſie
aus dieſem unleidlichen Stillſtand ihrer Kraͤfte ziehen
kan, und alſo am beſten aufgelegt, den Reiz ſittlicher
und intellectualiſcher Schoͤnheiten zu empfinden. Aller-
dings wuͤrde ein trokner Zergliederer metaphyſiſcher Be-
griffe ſich nicht dazu geſchikt haben, ſolche Gegen-
ſtaͤnde fuͤr einen Menſchen zu zurichten, der zu einer
ſcharfen Aufmerkſamkeit eben ſo ungeduldig als unver-
moͤgend war. Allein die Beredſamkeit des Homers
der Philoſophen wußte ſie auf eine ſo reizende Art fuͤr
die Einbildungs-Kraft zu vercoͤrpern, wußte die Lei-
denſchaften und innerſten Triebe des Herzens ſo geſchikt
fuͤr ſie ins Spiel zu ſezen, daß ſie nicht anders als ge-
fallen und ruͤhren konnten. Hiezu kam noch die Jugend
des Tyrannen, welche ſeine noch nicht verhaͤrtete Seele
neuer Eindruͤke faͤhig machte. Warum ſollte es alſo
nicht moͤglich geweſen ſeyn, ihm unter ſolchen Umſtaͤn-
den auf etliche Wochen die Liebe der Tugend einzufloͤſ-
ſen, da hiezu weiter nichts noͤthig war, als ſeinen
Neigungen unvermerkt andre Gegenſtaͤnde an die Stelle
derjenigen, deren er uͤberdruͤſſig war, zu unterſchie-
ben ‒‒‒ Denn in der That war ſeine Bekehrung nichts
anders, als daß er nunmehr, anſtatt irgend einer Wol-
luſt-athmenden Nymphe, ein ſchoͤnes Phantom der Tu-
gend umarmte, und ſtatt in Syracuſiſchem Weine ſich
in platoniſchen Jdeen berauſchte ‒‒‒ und daß eben dieſe

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[114/0116] Agathon. Mangel an angenehmen Eindruͤken uns in einen be- ſchwerlichen Mittelſtand zwiſchen Seyn und Nichtſeyn verſenkt ‒‒‒ in einem ſolchen Zuſtande, iſt die Seele be- gierig, einen jeden Gegenſtand zu umfaſſen, der ſie aus dieſem unleidlichen Stillſtand ihrer Kraͤfte ziehen kan, und alſo am beſten aufgelegt, den Reiz ſittlicher und intellectualiſcher Schoͤnheiten zu empfinden. Aller- dings wuͤrde ein trokner Zergliederer metaphyſiſcher Be- griffe ſich nicht dazu geſchikt haben, ſolche Gegen- ſtaͤnde fuͤr einen Menſchen zu zurichten, der zu einer ſcharfen Aufmerkſamkeit eben ſo ungeduldig als unver- moͤgend war. Allein die Beredſamkeit des Homers der Philoſophen wußte ſie auf eine ſo reizende Art fuͤr die Einbildungs-Kraft zu vercoͤrpern, wußte die Lei- denſchaften und innerſten Triebe des Herzens ſo geſchikt fuͤr ſie ins Spiel zu ſezen, daß ſie nicht anders als ge- fallen und ruͤhren konnten. Hiezu kam noch die Jugend des Tyrannen, welche ſeine noch nicht verhaͤrtete Seele neuer Eindruͤke faͤhig machte. Warum ſollte es alſo nicht moͤglich geweſen ſeyn, ihm unter ſolchen Umſtaͤn- den auf etliche Wochen die Liebe der Tugend einzufloͤſ- ſen, da hiezu weiter nichts noͤthig war, als ſeinen Neigungen unvermerkt andre Gegenſtaͤnde an die Stelle derjenigen, deren er uͤberdruͤſſig war, zu unterſchie- ben ‒‒‒ Denn in der That war ſeine Bekehrung nichts anders, als daß er nunmehr, anſtatt irgend einer Wol- luſt-athmenden Nymphe, ein ſchoͤnes Phantom der Tu- gend umarmte, und ſtatt in Syracuſiſchem Weine ſich in platoniſchen Jdeen berauſchte ‒‒‒ und daß eben dieſe Eitelkeit,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/116>, abgerufen am 25.11.2024.