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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, zweytes Capitel.
der auf ewig umgestürzten Republik. Was half also
sein Platonismus dem Vaterlande? Wir haben uns viel-
leicht zu lange bey dieser Betrachtung aufgehalten; aber
die Beobachtung, die uns dazu verleitet hat, so alt sie
ist, scheint uns wichtig und an practischen Folgerungen
fruchtbar, deren Nuzbarkeit sich über alle Stände aus-
breiten, und besonders bey denjenigen welche mit der
Regierung und moralischen Disciplinirung der Menschen
beschäftiget sind, sich vorzüglich äussern würde, wenn
sie besser eingesehen und mit eben so viel Redlichkeit als
Klugheit angewendet würden. Vielleicht würden die
Augen derjenigen, welche weder durch einen Nebel noch
durch gefärbte Gläser sehen, mit dem weinerlichlächer-
lichen Schauspiel von so vielen ehrlichen Leuten verschont
bleiben, die aus allen Kräften und mit der feyrlichsten
Ernsthaftigkeit leeres Stroh dreschen, und wenn sie das
ganze Jahr durch gedreschet haben, sich sehr verwun-
dern, daß nichts als Stroh auf der Tenne liegt --- der
Patriotische Phlegon würde sich durch den allzuhizigen
Eyfer, seine in allen Theilen verdorbene Republik auch
einmal durch eben so hizige Mittel wieder gesund zu
machen, nicht so viel Verdruß zuziehen, und durch die-
sen Verdruß und die Vergeblichkeit seiner undankbaren
Bemühungen nicht veranlasset werden, sich zu Tode ---
zu trinken --- Der redliche Macrin würde sich nicht
auf Unkosten seiner Freyheit und vielleicht seines Lebens
in den Kopf sezen, aus einem Caligula einen Marc
Aurel zu machen --- Der wohlmeynende Diophant würde
einsehen, wie wenig Hofnung er sich zu machen habe,

Leute,
G 2

Neuntes Buch, zweytes Capitel.
der auf ewig umgeſtuͤrzten Republik. Was half alſo
ſein Platonismus dem Vaterlande? Wir haben uns viel-
leicht zu lange bey dieſer Betrachtung aufgehalten; aber
die Beobachtung, die uns dazu verleitet hat, ſo alt ſie
iſt, ſcheint uns wichtig und an practiſchen Folgerungen
fruchtbar, deren Nuzbarkeit ſich uͤber alle Staͤnde aus-
breiten, und beſonders bey denjenigen welche mit der
Regierung und moraliſchen Diſciplinirung der Menſchen
beſchaͤftiget ſind, ſich vorzuͤglich aͤuſſern wuͤrde, wenn
ſie beſſer eingeſehen und mit eben ſo viel Redlichkeit als
Klugheit angewendet wuͤrden. Vielleicht wuͤrden die
Augen derjenigen, welche weder durch einen Nebel noch
durch gefaͤrbte Glaͤſer ſehen, mit dem weinerlichlaͤcher-
lichen Schauſpiel von ſo vielen ehrlichen Leuten verſchont
bleiben, die aus allen Kraͤften und mit der feyrlichſten
Ernſthaftigkeit leeres Stroh dreſchen, und wenn ſie das
ganze Jahr durch gedreſchet haben, ſich ſehr verwun-
dern, daß nichts als Stroh auf der Tenne liegt ‒‒‒ der
Patriotiſche Phlegon wuͤrde ſich durch den allzuhizigen
Eyfer, ſeine in allen Theilen verdorbene Republik auch
einmal durch eben ſo hizige Mittel wieder geſund zu
machen, nicht ſo viel Verdruß zuziehen, und durch die-
ſen Verdruß und die Vergeblichkeit ſeiner undankbaren
Bemuͤhungen nicht veranlaſſet werden, ſich zu Tode ‒‒‒
zu trinken ‒‒‒ Der redliche Macrin wuͤrde ſich nicht
auf Unkoſten ſeiner Freyheit und vielleicht ſeines Lebens
in den Kopf ſezen, aus einem Caligula einen Marc
Aurel zu machen ‒‒‒ Der wohlmeynende Diophant wuͤrde
einſehen, wie wenig Hofnung er ſich zu machen habe,

Leute,
G 2
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[99/0101] Neuntes Buch, zweytes Capitel. der auf ewig umgeſtuͤrzten Republik. Was half alſo ſein Platonismus dem Vaterlande? Wir haben uns viel- leicht zu lange bey dieſer Betrachtung aufgehalten; aber die Beobachtung, die uns dazu verleitet hat, ſo alt ſie iſt, ſcheint uns wichtig und an practiſchen Folgerungen fruchtbar, deren Nuzbarkeit ſich uͤber alle Staͤnde aus- breiten, und beſonders bey denjenigen welche mit der Regierung und moraliſchen Diſciplinirung der Menſchen beſchaͤftiget ſind, ſich vorzuͤglich aͤuſſern wuͤrde, wenn ſie beſſer eingeſehen und mit eben ſo viel Redlichkeit als Klugheit angewendet wuͤrden. Vielleicht wuͤrden die Augen derjenigen, welche weder durch einen Nebel noch durch gefaͤrbte Glaͤſer ſehen, mit dem weinerlichlaͤcher- lichen Schauſpiel von ſo vielen ehrlichen Leuten verſchont bleiben, die aus allen Kraͤften und mit der feyrlichſten Ernſthaftigkeit leeres Stroh dreſchen, und wenn ſie das ganze Jahr durch gedreſchet haben, ſich ſehr verwun- dern, daß nichts als Stroh auf der Tenne liegt ‒‒‒ der Patriotiſche Phlegon wuͤrde ſich durch den allzuhizigen Eyfer, ſeine in allen Theilen verdorbene Republik auch einmal durch eben ſo hizige Mittel wieder geſund zu machen, nicht ſo viel Verdruß zuziehen, und durch die- ſen Verdruß und die Vergeblichkeit ſeiner undankbaren Bemuͤhungen nicht veranlaſſet werden, ſich zu Tode ‒‒‒ zu trinken ‒‒‒ Der redliche Macrin wuͤrde ſich nicht auf Unkoſten ſeiner Freyheit und vielleicht ſeines Lebens in den Kopf ſezen, aus einem Caligula einen Marc Aurel zu machen ‒‒‒ Der wohlmeynende Diophant wuͤrde einſehen, wie wenig Hofnung er ſich zu machen habe, Leute, G 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/101>, abgerufen am 28.03.2024.