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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Zweytes Buch, viertes Capitel.
Symphonien, welche die Seele in ein bezaubertes Ver-
gessen ihrer selbst versenkten, und, nachdem sie alle ihre
edlere Kräfte entwafnet hatte, die erregte und willige
Sinnlichkeit der ganzen Gewalt der von allen Seiten
eindringenden Wollust auslieferten. Agathon konnte
bey diesen Scenen, wo so viele Künste, so viele Zau-
ber-Mittel sich vereinigten, den Widerstand der Tugend
zu ermüden, nicht so gleichgültig bleiben, als diejenigen
zu seyn schienen, die derselben gewohnt waren; und die
Unruhe, in die er dadurch gesezt wurde, machte ihm,
was auch die Stoiker sagen mögen, mehr Ehre, als
dem Hippias und seinen Freunden ihre Gelassenheit. Er
befand also für gut, sich allemal, wenn er seine Rolle,
als Homerist, geendiget hatte, hinweg und an einen
Ort zu begeben, wo er in ungestörter Einsamkeit sich
von den widrigen Eindrüken befreyen konnte, die das
geschäftige und fröliche Getümmel des Hauses, und der
Anblik von so vielen Gegenständen, die seine morali-
schen Sinne beleidigten, den Tag über auf sein Gemü-
the gemacht hatten.



Fünftes
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Zweytes Buch, viertes Capitel.
Symphonien, welche die Seele in ein bezaubertes Ver-
geſſen ihrer ſelbſt verſenkten, und, nachdem ſie alle ihre
edlere Kraͤfte entwafnet hatte, die erregte und willige
Sinnlichkeit der ganzen Gewalt der von allen Seiten
eindringenden Wolluſt auslieferten. Agathon konnte
bey dieſen Scenen, wo ſo viele Kuͤnſte, ſo viele Zau-
ber-Mittel ſich vereinigten, den Widerſtand der Tugend
zu ermuͤden, nicht ſo gleichguͤltig bleiben, als diejenigen
zu ſeyn ſchienen, die derſelben gewohnt waren; und die
Unruhe, in die er dadurch geſezt wurde, machte ihm,
was auch die Stoiker ſagen moͤgen, mehr Ehre, als
dem Hippias und ſeinen Freunden ihre Gelaſſenheit. Er
befand alſo fuͤr gut, ſich allemal, wenn er ſeine Rolle,
als Homeriſt, geendiget hatte, hinweg und an einen
Ort zu begeben, wo er in ungeſtoͤrter Einſamkeit ſich
von den widrigen Eindruͤken befreyen konnte, die das
geſchaͤftige und froͤliche Getuͤmmel des Hauſes, und der
Anblik von ſo vielen Gegenſtaͤnden, die ſeine morali-
ſchen Sinne beleidigten, den Tag uͤber auf ſein Gemuͤ-
the gemacht hatten.



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[53/0075] Zweytes Buch, viertes Capitel. Symphonien, welche die Seele in ein bezaubertes Ver- geſſen ihrer ſelbſt verſenkten, und, nachdem ſie alle ihre edlere Kraͤfte entwafnet hatte, die erregte und willige Sinnlichkeit der ganzen Gewalt der von allen Seiten eindringenden Wolluſt auslieferten. Agathon konnte bey dieſen Scenen, wo ſo viele Kuͤnſte, ſo viele Zau- ber-Mittel ſich vereinigten, den Widerſtand der Tugend zu ermuͤden, nicht ſo gleichguͤltig bleiben, als diejenigen zu ſeyn ſchienen, die derſelben gewohnt waren; und die Unruhe, in die er dadurch geſezt wurde, machte ihm, was auch die Stoiker ſagen moͤgen, mehr Ehre, als dem Hippias und ſeinen Freunden ihre Gelaſſenheit. Er befand alſo fuͤr gut, ſich allemal, wenn er ſeine Rolle, als Homeriſt, geendiget hatte, hinweg und an einen Ort zu begeben, wo er in ungeſtoͤrter Einſamkeit ſich von den widrigen Eindruͤken befreyen konnte, die das geſchaͤftige und froͤliche Getuͤmmel des Hauſes, und der Anblik von ſo vielen Gegenſtaͤnden, die ſeine morali- ſchen Sinne beleidigten, den Tag uͤber auf ſein Gemuͤ- the gemacht hatten. Fuͤnftes D 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/75>, abgerufen am 29.03.2024.