Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon. Hippias hatte den Ruhm, daß ihm in den Talentenseiner Profession wenige den Vorzug streitig machen könn- ten. Ob er gleich über fünfzig Jahre hatte, so war ihm doch von der Gabe zu gefallen, die ihm in seiner Ju- gend so nüzlich gewesen war, noch genug übrig geblie- ben, daß sein Umgang von den artigsten Personen des einen und andern Geschlechts gesucht wurde. Er hatte alles, was die Art von Weisheit, die er ausübte, ver- führisch machen konnte; eine edle Gestalt, eine einneh- mende Gesichts-Bildung, einen angenehmen Ton der Stimme, einen behenden und geschmeidigen Wiz, und eine Beredsamkeit, die desto mehr gefiel, weil sie mehr ein Geschenk der Natur, als eine durch Fleiß erwor- bene Kunst zu seyn schien. Diese Beredsamkeit, oder vielmehr diese Gabe angenehm zu schwazen, mit einer Tinctur von allen Wissenschaften, einem feinen Ge- schmak in dem Schönen und Angenehmen, und eine vollständige Kenntniß der Welt, war mehr als er nö- thig hatte, um in den Augen aller derjenigen, mit denen er umgieng, (denn er gieng mit keinen Socraten um) für einen Genie vom ersten Rang, für einen Mann zu gelten, welcher alles wisse; welchem schon zu- gelächelt wurde, eh man wußte, was er sagen wollte, und wider dessen Aussprüche nicht erlaubt war, etwas einzuwenden. Jndessen war doch dasjenige, dem er sein Glük vornehmlich zu danken hatte, die besondere Gabe, die er besaß, sich der schönern Helfte der Ge- sellschaft gefällig zu machen. Er war so klug, frühzei- tig
Agathon. Hippias hatte den Ruhm, daß ihm in den Talentenſeiner Profeſſion wenige den Vorzug ſtreitig machen koͤnn- ten. Ob er gleich uͤber fuͤnfzig Jahre hatte, ſo war ihm doch von der Gabe zu gefallen, die ihm in ſeiner Ju- gend ſo nuͤzlich geweſen war, noch genug uͤbrig geblie- ben, daß ſein Umgang von den artigſten Perſonen des einen und andern Geſchlechts geſucht wurde. Er hatte alles, was die Art von Weisheit, die er ausuͤbte, ver- fuͤhriſch machen konnte; eine edle Geſtalt, eine einneh- mende Geſichts-Bildung, einen angenehmen Ton der Stimme, einen behenden und geſchmeidigen Wiz, und eine Beredſamkeit, die deſto mehr gefiel, weil ſie mehr ein Geſchenk der Natur, als eine durch Fleiß erwor- bene Kunſt zu ſeyn ſchien. Dieſe Beredſamkeit, oder vielmehr dieſe Gabe angenehm zu ſchwazen, mit einer Tinctur von allen Wiſſenſchaften, einem feinen Ge- ſchmak in dem Schoͤnen und Angenehmen, und eine vollſtaͤndige Kenntniß der Welt, war mehr als er noͤ- thig hatte, um in den Augen aller derjenigen, mit denen er umgieng, (denn er gieng mit keinen Socraten um) fuͤr einen Genie vom erſten Rang, fuͤr einen Mann zu gelten, welcher alles wiſſe; welchem ſchon zu- gelaͤchelt wurde, eh man wußte, was er ſagen wollte, und wider deſſen Ausſpruͤche nicht erlaubt war, etwas einzuwenden. Jndeſſen war doch dasjenige, dem er ſein Gluͤk vornehmlich zu danken hatte, die beſondere Gabe, die er beſaß, ſich der ſchoͤnern Helfte der Ge- ſellſchaft gefaͤllig zu machen. Er war ſo klug, fruͤhzei- tig
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0064" n="42"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/> Hippias hatte den Ruhm, daß ihm in den Talenten<lb/> ſeiner Profeſſion wenige den Vorzug ſtreitig machen koͤnn-<lb/> ten. Ob er gleich uͤber fuͤnfzig Jahre hatte, ſo war ihm<lb/> doch von der Gabe zu gefallen, die ihm in ſeiner Ju-<lb/> gend ſo nuͤzlich geweſen war, noch genug uͤbrig geblie-<lb/> ben, daß ſein Umgang von den artigſten Perſonen des<lb/> einen und andern Geſchlechts geſucht wurde. Er hatte<lb/> alles, was die Art von Weisheit, die er ausuͤbte, ver-<lb/> fuͤhriſch machen konnte; eine edle Geſtalt, eine einneh-<lb/> mende Geſichts-Bildung, einen angenehmen Ton der<lb/> Stimme, einen behenden und geſchmeidigen Wiz, und<lb/> eine Beredſamkeit, die deſto mehr gefiel, weil ſie mehr<lb/> ein Geſchenk der Natur, als eine durch Fleiß erwor-<lb/> bene Kunſt zu ſeyn ſchien. Dieſe Beredſamkeit, oder<lb/> vielmehr dieſe Gabe angenehm zu ſchwazen, mit einer<lb/> Tinctur von allen Wiſſenſchaften, einem feinen Ge-<lb/> ſchmak in dem Schoͤnen und Angenehmen, und eine<lb/> vollſtaͤndige Kenntniß der Welt, war mehr als er noͤ-<lb/> thig hatte, um in den Augen aller derjenigen, mit<lb/> denen er umgieng, (denn er gieng mit keinen Socraten<lb/> um) fuͤr einen Genie vom erſten Rang, fuͤr einen<lb/> Mann zu gelten, welcher alles wiſſe; welchem ſchon zu-<lb/> gelaͤchelt wurde, eh man wußte, was er ſagen wollte,<lb/> und wider deſſen Ausſpruͤche nicht erlaubt war, etwas<lb/> einzuwenden. Jndeſſen war doch dasjenige, dem er<lb/> ſein Gluͤk vornehmlich zu danken hatte, die beſondere<lb/> Gabe, die er beſaß, ſich der ſchoͤnern Helfte der Ge-<lb/> ſellſchaft gefaͤllig zu machen. Er war ſo klug, fruͤhzei-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">tig</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0064]
Agathon.
Hippias hatte den Ruhm, daß ihm in den Talenten
ſeiner Profeſſion wenige den Vorzug ſtreitig machen koͤnn-
ten. Ob er gleich uͤber fuͤnfzig Jahre hatte, ſo war ihm
doch von der Gabe zu gefallen, die ihm in ſeiner Ju-
gend ſo nuͤzlich geweſen war, noch genug uͤbrig geblie-
ben, daß ſein Umgang von den artigſten Perſonen des
einen und andern Geſchlechts geſucht wurde. Er hatte
alles, was die Art von Weisheit, die er ausuͤbte, ver-
fuͤhriſch machen konnte; eine edle Geſtalt, eine einneh-
mende Geſichts-Bildung, einen angenehmen Ton der
Stimme, einen behenden und geſchmeidigen Wiz, und
eine Beredſamkeit, die deſto mehr gefiel, weil ſie mehr
ein Geſchenk der Natur, als eine durch Fleiß erwor-
bene Kunſt zu ſeyn ſchien. Dieſe Beredſamkeit, oder
vielmehr dieſe Gabe angenehm zu ſchwazen, mit einer
Tinctur von allen Wiſſenſchaften, einem feinen Ge-
ſchmak in dem Schoͤnen und Angenehmen, und eine
vollſtaͤndige Kenntniß der Welt, war mehr als er noͤ-
thig hatte, um in den Augen aller derjenigen, mit
denen er umgieng, (denn er gieng mit keinen Socraten
um) fuͤr einen Genie vom erſten Rang, fuͤr einen
Mann zu gelten, welcher alles wiſſe; welchem ſchon zu-
gelaͤchelt wurde, eh man wußte, was er ſagen wollte,
und wider deſſen Ausſpruͤche nicht erlaubt war, etwas
einzuwenden. Jndeſſen war doch dasjenige, dem er
ſein Gluͤk vornehmlich zu danken hatte, die beſondere
Gabe, die er beſaß, ſich der ſchoͤnern Helfte der Ge-
ſellſchaft gefaͤllig zu machen. Er war ſo klug, fruͤhzei-
tig
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |