Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweytes Buch, erstes Capitel.
wußte nicht zu leben; sie war unerträglich, weil sie al-
les tadelte, und immer Recht hatte; sie wurde von dem
geschäftigen Theil der Welt für unnüzlich, von dem
müssigen für abgeschmakt, und von dem andächtigen
gar für gefährlich erklärt. Wir würden nicht fertig wer-
den, wenn wir diese Gegensäze so weit treiben wollten,
als wir könnten. Genug, daß die Weisheit der So-
phisten einen Vorzug hatte, den ihr die Socratische
nicht streitig machen konnte; sie verschafte ihren Besi-
zern Reichthum, Ansehen, Ruhm, und ein Leben,
das von allem, was die Welt glüklich nennet, überfloß.

Hippias (so hieß der neue Herr unsers Agathon)
war einer von diesen Glüklichen, dem die Kunst, sich
die Thorheiten andrer Leute zinsbar zu machen, ein
Vermögen erworben hatte; wodurch er sich im Stande
sah, sich der Ausübung derselben zu begeben, und die
andre Helfte seines Lebens in den Ergözungen eines be-
güterten Müssigangs zu zubringen; zu deren angenehm-
sten Genuß das zunehmende Alter viel geschikter scheint,
als die ungestüme Jugend. Er hatte sich zu diesem Ende
Smyrna zu seinem Wohn-Ort ausersehen, weil die An-
nehmlichkeiten des Jonischen Clima, die schöne Lage die-
ser Stadt, der Ueberfluß, der ihr durch die Handlung
aus allen Theilen des Erdbodens zuströmte, und die
Verbindung des griechischen Geschmaks mit der wollüsti-
gen Ueppigkeit der Morgenländer ihm diesen Aufent-
halt vor allen andern, die er kannte, vorzüglich machte.

Hippias
C 5

Zweytes Buch, erſtes Capitel.
wußte nicht zu leben; ſie war unertraͤglich, weil ſie al-
les tadelte, und immer Recht hatte; ſie wurde von dem
geſchaͤftigen Theil der Welt fuͤr unnuͤzlich, von dem
muͤſſigen fuͤr abgeſchmakt, und von dem andaͤchtigen
gar fuͤr gefaͤhrlich erklaͤrt. Wir wuͤrden nicht fertig wer-
den, wenn wir dieſe Gegenſaͤze ſo weit treiben wollten,
als wir koͤnnten. Genug, daß die Weisheit der So-
phiſten einen Vorzug hatte, den ihr die Socratiſche
nicht ſtreitig machen konnte; ſie verſchafte ihren Beſi-
zern Reichthum, Anſehen, Ruhm, und ein Leben,
das von allem, was die Welt gluͤklich nennet, uͤberfloß.

Hippias (ſo hieß der neue Herr unſers Agathon)
war einer von dieſen Gluͤklichen, dem die Kunſt, ſich
die Thorheiten andrer Leute zinsbar zu machen, ein
Vermoͤgen erworben hatte; wodurch er ſich im Stande
ſah, ſich der Ausuͤbung derſelben zu begeben, und die
andre Helfte ſeines Lebens in den Ergoͤzungen eines be-
guͤterten Muͤſſigangs zu zubringen; zu deren angenehm-
ſten Genuß das zunehmende Alter viel geſchikter ſcheint,
als die ungeſtuͤme Jugend. Er hatte ſich zu dieſem Ende
Smyrna zu ſeinem Wohn-Ort auserſehen, weil die An-
nehmlichkeiten des Joniſchen Clima, die ſchoͤne Lage die-
ſer Stadt, der Ueberfluß, der ihr durch die Handlung
aus allen Theilen des Erdbodens zuſtroͤmte, und die
Verbindung des griechiſchen Geſchmaks mit der wolluͤſti-
gen Ueppigkeit der Morgenlaͤnder ihm dieſen Aufent-
halt vor allen andern, die er kannte, vorzuͤglich machte.

Hippias
C 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0063" n="41"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweytes Buch, er&#x017F;tes Capitel.</hi></fw><lb/>
wußte nicht zu leben; &#x017F;ie war unertra&#x0364;glich, weil &#x017F;ie al-<lb/>
les tadelte, und immer Recht hatte; &#x017F;ie wurde von dem<lb/>
ge&#x017F;cha&#x0364;ftigen Theil der Welt fu&#x0364;r unnu&#x0364;zlich, von dem<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen fu&#x0364;r abge&#x017F;chmakt, und von dem anda&#x0364;chtigen<lb/>
gar fu&#x0364;r gefa&#x0364;hrlich erkla&#x0364;rt. Wir wu&#x0364;rden nicht fertig wer-<lb/>
den, wenn wir die&#x017F;e Gegen&#x017F;a&#x0364;ze &#x017F;o weit treiben wollten,<lb/>
als wir ko&#x0364;nnten. Genug, daß die Weisheit der So-<lb/>
phi&#x017F;ten einen Vorzug hatte, den ihr die Socrati&#x017F;che<lb/>
nicht &#x017F;treitig machen konnte; &#x017F;ie ver&#x017F;chafte ihren Be&#x017F;i-<lb/>
zern Reichthum, An&#x017F;ehen, Ruhm, und ein Leben,<lb/>
das von allem, was die Welt glu&#x0364;klich nennet, u&#x0364;berfloß.</p><lb/>
            <p>Hippias (&#x017F;o hieß der neue Herr un&#x017F;ers Agathon)<lb/>
war einer von die&#x017F;en Glu&#x0364;klichen, dem die Kun&#x017F;t, &#x017F;ich<lb/>
die Thorheiten andrer Leute zinsbar zu machen, ein<lb/>
Vermo&#x0364;gen erworben hatte; wodurch er &#x017F;ich im Stande<lb/>
&#x017F;ah, &#x017F;ich der Ausu&#x0364;bung der&#x017F;elben zu begeben, und die<lb/>
andre Helfte &#x017F;eines Lebens in den Ergo&#x0364;zungen eines be-<lb/>
gu&#x0364;terten Mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;igangs zu zubringen; zu deren angenehm-<lb/>
&#x017F;ten Genuß das zunehmende Alter viel ge&#x017F;chikter &#x017F;cheint,<lb/>
als die unge&#x017F;tu&#x0364;me Jugend. Er hatte &#x017F;ich zu die&#x017F;em Ende<lb/>
Smyrna zu &#x017F;einem Wohn-Ort auser&#x017F;ehen, weil die An-<lb/>
nehmlichkeiten des Joni&#x017F;chen Clima, die &#x017F;cho&#x0364;ne Lage die-<lb/>
&#x017F;er Stadt, der Ueberfluß, der ihr durch die Handlung<lb/>
aus allen Theilen des Erdbodens zu&#x017F;tro&#x0364;mte, und die<lb/>
Verbindung des griechi&#x017F;chen Ge&#x017F;chmaks mit der wollu&#x0364;&#x017F;ti-<lb/>
gen Ueppigkeit der Morgenla&#x0364;nder ihm die&#x017F;en Aufent-<lb/>
halt vor allen andern, die er kannte, vorzu&#x0364;glich machte.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Hippias</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0063] Zweytes Buch, erſtes Capitel. wußte nicht zu leben; ſie war unertraͤglich, weil ſie al- les tadelte, und immer Recht hatte; ſie wurde von dem geſchaͤftigen Theil der Welt fuͤr unnuͤzlich, von dem muͤſſigen fuͤr abgeſchmakt, und von dem andaͤchtigen gar fuͤr gefaͤhrlich erklaͤrt. Wir wuͤrden nicht fertig wer- den, wenn wir dieſe Gegenſaͤze ſo weit treiben wollten, als wir koͤnnten. Genug, daß die Weisheit der So- phiſten einen Vorzug hatte, den ihr die Socratiſche nicht ſtreitig machen konnte; ſie verſchafte ihren Beſi- zern Reichthum, Anſehen, Ruhm, und ein Leben, das von allem, was die Welt gluͤklich nennet, uͤberfloß. Hippias (ſo hieß der neue Herr unſers Agathon) war einer von dieſen Gluͤklichen, dem die Kunſt, ſich die Thorheiten andrer Leute zinsbar zu machen, ein Vermoͤgen erworben hatte; wodurch er ſich im Stande ſah, ſich der Ausuͤbung derſelben zu begeben, und die andre Helfte ſeines Lebens in den Ergoͤzungen eines be- guͤterten Muͤſſigangs zu zubringen; zu deren angenehm- ſten Genuß das zunehmende Alter viel geſchikter ſcheint, als die ungeſtuͤme Jugend. Er hatte ſich zu dieſem Ende Smyrna zu ſeinem Wohn-Ort auserſehen, weil die An- nehmlichkeiten des Joniſchen Clima, die ſchoͤne Lage die- ſer Stadt, der Ueberfluß, der ihr durch die Handlung aus allen Theilen des Erdbodens zuſtroͤmte, und die Verbindung des griechiſchen Geſchmaks mit der wolluͤſti- gen Ueppigkeit der Morgenlaͤnder ihm dieſen Aufent- halt vor allen andern, die er kannte, vorzuͤglich machte. Hippias C 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/63
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/63>, abgerufen am 28.03.2024.