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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
kommenheit zu dem gewöhnlichen Werth einer jeden an-
dern schönen Frau herabgesunken; und er selbst, der vor
kurzem sich an Wonne den Göttern gleich geschäzet hatte,
sieng an, sehr starke Zweifel zu bekommen: Ob er in
dieser weibischen Gestalt, worein ihn die Liebe verklei-
det hatte, den Namen eines Mannes verdiene? Man
wird nicht zweifeln, daß in diesem Zustand die Erin-
nerungen dessen, was er ehemals gewesen war -- der
wundervolle Traum, den er je länger je mehr für die
Würkung irgend eines wolthätigen Geistes, und viel-
leicht des abgeschiedenen Schattens seiner geliebten Psy-
che selbst, zu halten bewogen war -- die Stimme
der Tugend, die er einst angebettet, und welcher er
alles aufgeopfert hatte -- und die Vorwürfe, die sie
ihm schon vor einiger Zeit über ein in müssiger Wol-
lust unrühmlich dahinfchmelzendes Leben zu machen an-
gefangen, -- gute Gelegenheit hatten, sein Herz,
dessen beste Neigungen selbst auf ihrer Seite waren,
mit vereinigter Stärke wieder anzugreiffen. Sie hat-
ten es fast gänzlich wieder eingenommen, als er erst
deutlich gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen,
denen er sich überließ, nothwendig führen mußten. Er
erschrak, da er sah, daß ihm nichts als die Flucht von
dieser allzureizenden Zauberin seine vorige Gestalt wie-
der geben könne. Sich von Danae zu treunen! auf
ewig zu trennen! -- Dieser Gedanke benahm seiner
Seele auf einmal alle die Stärke wieder, welche sie
wieder in sich zu fühlen anfieng, und wekte alle Erin-
nerungen, alle Empfindungen seiner entschlummerten

Leiden-

Agathon.
kommenheit zu dem gewoͤhnlichen Werth einer jeden an-
dern ſchoͤnen Frau herabgeſunken; und er ſelbſt, der vor
kurzem ſich an Wonne den Goͤttern gleich geſchaͤzet hatte,
ſieng an, ſehr ſtarke Zweifel zu bekommen: Ob er in
dieſer weibiſchen Geſtalt, worein ihn die Liebe verklei-
det hatte, den Namen eines Mannes verdiene? Man
wird nicht zweifeln, daß in dieſem Zuſtand die Erin-
nerungen deſſen, was er ehemals geweſen war — der
wundervolle Traum, den er je laͤnger je mehr fuͤr die
Wuͤrkung irgend eines wolthaͤtigen Geiſtes, und viel-
leicht des abgeſchiedenen Schattens ſeiner geliebten Pſy-
che ſelbſt, zu halten bewogen war — die Stimme
der Tugend, die er einſt angebettet, und welcher er
alles aufgeopfert hatte — und die Vorwuͤrfe, die ſie
ihm ſchon vor einiger Zeit uͤber ein in muͤſſiger Wol-
luſt unruͤhmlich dahinfchmelzendes Leben zu machen an-
gefangen, — gute Gelegenheit hatten, ſein Herz,
deſſen beſte Neigungen ſelbſt auf ihrer Seite waren,
mit vereinigter Staͤrke wieder anzugreiffen. Sie hat-
ten es faſt gaͤnzlich wieder eingenommen, als er erſt
deutlich gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen,
denen er ſich uͤberließ, nothwendig fuͤhren mußten. Er
erſchrak, da er ſah, daß ihm nichts als die Flucht von
dieſer allzureizenden Zauberin ſeine vorige Geſtalt wie-
der geben koͤnne. Sich von Danae zu treunen! auf
ewig zu trennen! — Dieſer Gedanke benahm ſeiner
Seele auf einmal alle die Staͤrke wieder, welche ſie
wieder in ſich zu fuͤhlen anfieng, und wekte alle Erin-
nerungen, alle Empfindungen ſeiner entſchlummerten

Leiden-
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[388/0410] Agathon. kommenheit zu dem gewoͤhnlichen Werth einer jeden an- dern ſchoͤnen Frau herabgeſunken; und er ſelbſt, der vor kurzem ſich an Wonne den Goͤttern gleich geſchaͤzet hatte, ſieng an, ſehr ſtarke Zweifel zu bekommen: Ob er in dieſer weibiſchen Geſtalt, worein ihn die Liebe verklei- det hatte, den Namen eines Mannes verdiene? Man wird nicht zweifeln, daß in dieſem Zuſtand die Erin- nerungen deſſen, was er ehemals geweſen war — der wundervolle Traum, den er je laͤnger je mehr fuͤr die Wuͤrkung irgend eines wolthaͤtigen Geiſtes, und viel- leicht des abgeſchiedenen Schattens ſeiner geliebten Pſy- che ſelbſt, zu halten bewogen war — die Stimme der Tugend, die er einſt angebettet, und welcher er alles aufgeopfert hatte — und die Vorwuͤrfe, die ſie ihm ſchon vor einiger Zeit uͤber ein in muͤſſiger Wol- luſt unruͤhmlich dahinfchmelzendes Leben zu machen an- gefangen, — gute Gelegenheit hatten, ſein Herz, deſſen beſte Neigungen ſelbſt auf ihrer Seite waren, mit vereinigter Staͤrke wieder anzugreiffen. Sie hat- ten es faſt gaͤnzlich wieder eingenommen, als er erſt deutlich gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen, denen er ſich uͤberließ, nothwendig fuͤhren mußten. Er erſchrak, da er ſah, daß ihm nichts als die Flucht von dieſer allzureizenden Zauberin ſeine vorige Geſtalt wie- der geben koͤnne. Sich von Danae zu treunen! auf ewig zu trennen! — Dieſer Gedanke benahm ſeiner Seele auf einmal alle die Staͤrke wieder, welche ſie wieder in ſich zu fuͤhlen anfieng, und wekte alle Erin- nerungen, alle Empfindungen ſeiner entſchlummerten Leiden-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/410>, abgerufen am 29.03.2024.