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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, neuntes Capitel.
von der grenzenlosen Capacität und Unersättlichkeit ih-
rer Begierden so viel schönes zu sagen wissen,) ist
doch nur eines gewissen Masses von Vergnügen fähig,
und kan einen anhaltenden Zustand von Entzükung eben
so wenig ertragen, als eine lange Dauer des äussersten
Schmerzens. Beydes spannt endlich ihre Nerven ab,
und bringt sie zu einer Art von Ohnmacht, in welcher
sie gar nichts mehr zu empfinden fähig ist. Was in-
dessen auch die Ursache einer für die Absichten der Da-
nae so nachtheiligen Veränderung gewesen seyn mag;
so ist gewiß, daß die Würkungen derselben in kurzer
Zeit so sehr überhand nahmen, daß Agathon selbst Mühe
hatte, sich in sich selbst zu erkennen, oder zu begreif-
fen, wie es mit dieser seltsamen Verwandlung der
Scene zugegangen sey. Ein magischer Nebel schien
vor seinen erstaunten Augen wegzufallen; die ganze
Natur zeigte sich ihm in einer andern Gestalt, verlohr
diesen reizenden Firniß, den ihr der Geist der Liebe
gegeben hatte; diese Gärten, vor wenigen Tagen der
geliebte Aufenthalt aller Freuden und Liebes-Götter,
diese elysischen Hayne, diese mäandrischen Rosen-Ge-
büsche, worinn die lauschende Wollust sich so gerne ver-
borgen hatte, um das Vergnügen zu haben, sich erha-
schen zu lassen -- erwekten izt durch ihren Anblik
nichts mehr, als jeder andre schattichte Plaz, jedes
andre Gebüsche; die Luft, die er athmete, war nicht
mehr dieser süsse Athem der Liebe, von dem jeder
Hauch die Flammen seines Herzens stärker aufzuwehen
schien; Danae war bereits von der idealischen Voll-

kommen-
B b 2

Siebentes Buch, neuntes Capitel.
von der grenzenloſen Capacitaͤt und Unerſaͤttlichkeit ih-
rer Begierden ſo viel ſchoͤnes zu ſagen wiſſen,) iſt
doch nur eines gewiſſen Maſſes von Vergnuͤgen faͤhig,
und kan einen anhaltenden Zuſtand von Entzuͤkung eben
ſo wenig ertragen, als eine lange Dauer des aͤuſſerſten
Schmerzens. Beydes ſpannt endlich ihre Nerven ab,
und bringt ſie zu einer Art von Ohnmacht, in welcher
ſie gar nichts mehr zu empfinden faͤhig iſt. Was in-
deſſen auch die Urſache einer fuͤr die Abſichten der Da-
nae ſo nachtheiligen Veraͤnderung geweſen ſeyn mag;
ſo iſt gewiß, daß die Wuͤrkungen derſelben in kurzer
Zeit ſo ſehr uͤberhand nahmen, daß Agathon ſelbſt Muͤhe
hatte, ſich in ſich ſelbſt zu erkennen, oder zu begreif-
fen, wie es mit dieſer ſeltſamen Verwandlung der
Scene zugegangen ſey. Ein magiſcher Nebel ſchien
vor ſeinen erſtaunten Augen wegzufallen; die ganze
Natur zeigte ſich ihm in einer andern Geſtalt, verlohr
dieſen reizenden Firniß, den ihr der Geiſt der Liebe
gegeben hatte; dieſe Gaͤrten, vor wenigen Tagen der
geliebte Aufenthalt aller Freuden und Liebes-Goͤtter,
dieſe elyſiſchen Hayne, dieſe maͤandriſchen Roſen-Ge-
buͤſche, worinn die lauſchende Wolluſt ſich ſo gerne ver-
borgen hatte, um das Vergnuͤgen zu haben, ſich erha-
ſchen zu laſſen — erwekten izt durch ihren Anblik
nichts mehr, als jeder andre ſchattichte Plaz, jedes
andre Gebuͤſche; die Luft, die er athmete, war nicht
mehr dieſer ſuͤſſe Athem der Liebe, von dem jeder
Hauch die Flammen ſeines Herzens ſtaͤrker aufzuwehen
ſchien; Danae war bereits von der idealiſchen Voll-

kommen-
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[387/0409] Siebentes Buch, neuntes Capitel. von der grenzenloſen Capacitaͤt und Unerſaͤttlichkeit ih- rer Begierden ſo viel ſchoͤnes zu ſagen wiſſen,) iſt doch nur eines gewiſſen Maſſes von Vergnuͤgen faͤhig, und kan einen anhaltenden Zuſtand von Entzuͤkung eben ſo wenig ertragen, als eine lange Dauer des aͤuſſerſten Schmerzens. Beydes ſpannt endlich ihre Nerven ab, und bringt ſie zu einer Art von Ohnmacht, in welcher ſie gar nichts mehr zu empfinden faͤhig iſt. Was in- deſſen auch die Urſache einer fuͤr die Abſichten der Da- nae ſo nachtheiligen Veraͤnderung geweſen ſeyn mag; ſo iſt gewiß, daß die Wuͤrkungen derſelben in kurzer Zeit ſo ſehr uͤberhand nahmen, daß Agathon ſelbſt Muͤhe hatte, ſich in ſich ſelbſt zu erkennen, oder zu begreif- fen, wie es mit dieſer ſeltſamen Verwandlung der Scene zugegangen ſey. Ein magiſcher Nebel ſchien vor ſeinen erſtaunten Augen wegzufallen; die ganze Natur zeigte ſich ihm in einer andern Geſtalt, verlohr dieſen reizenden Firniß, den ihr der Geiſt der Liebe gegeben hatte; dieſe Gaͤrten, vor wenigen Tagen der geliebte Aufenthalt aller Freuden und Liebes-Goͤtter, dieſe elyſiſchen Hayne, dieſe maͤandriſchen Roſen-Ge- buͤſche, worinn die lauſchende Wolluſt ſich ſo gerne ver- borgen hatte, um das Vergnuͤgen zu haben, ſich erha- ſchen zu laſſen — erwekten izt durch ihren Anblik nichts mehr, als jeder andre ſchattichte Plaz, jedes andre Gebuͤſche; die Luft, die er athmete, war nicht mehr dieſer ſuͤſſe Athem der Liebe, von dem jeder Hauch die Flammen ſeines Herzens ſtaͤrker aufzuwehen ſchien; Danae war bereits von der idealiſchen Voll- kommen- B b 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/409>, abgerufen am 19.04.2024.