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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, neuntes Capitel.
eine Hoffnung, welche voraussezte, daß die Bezaube-
rung immer dauern werde?

Diese lezte Betrachtung machte sie zittern; --
denn sie fühlte mit einer immer zunehmenden Stärke,
daß Agathon zu ihrer Glükseligkeit unentbehrlich ge-
worden war. -- Aber (so ist die betrügliche Na-
tur des menschlichen Herzens!) eben darum, weil der
Verlust ihres Liebhabers sie elend gemacht haben wür-
de, hatten alle Vorstellungen, welche ihr mit seinem
beständigen Besiz schmeichelten, doppelte Kraft ein Herz
zu überreden, welches nichts anders suchte, als ge-
täuscht zu seyn. Sie bildete sich also ein, daß der
Hang zu demjenigen, was man die Wollust der Seele
nennen kann, den wesentlichsten Zug von der Gemüths-
Beschaffenheit unsers Helden ausmache. Seine Philo-
sophie selbst schien ihr diese Meynung zu bestätigen, und,
bey aller ihrer Erhabenheit über den groben Materia-
lismus des grösten Haufens der Sterblichen, in der That mit
den Grundsäzen des Aristippus, welche vormals ihre eigenen
gewesen waren, in dem nemlichen Punct zusammenzu-
lauffen. Der ganze Unterscheid schien ihr darinn zu
liegen, daß dieser die Wollust, welche er zum lezten
Ziel der Weisheit machte, mehr in der angenehmen
Bewegung der Sinnen, den Befriedigungen eines ge-
läuterten Geschmaks, und den Ergözlichkeiten eines von
allen unruhigen Leidenschaften befreyten geselligen Le-
bens -- Agathon hingegen, diese feinere Wollust,
von welcher er in den stillen Haynen des Delphischen

Tempels

Siebentes Buch, neuntes Capitel.
eine Hoffnung, welche vorausſezte, daß die Bezaube-
rung immer dauern werde?

Dieſe lezte Betrachtung machte ſie zittern; —
denn ſie fuͤhlte mit einer immer zunehmenden Staͤrke,
daß Agathon zu ihrer Gluͤkſeligkeit unentbehrlich ge-
worden war. — Aber (ſo iſt die betruͤgliche Na-
tur des menſchlichen Herzens!) eben darum, weil der
Verluſt ihres Liebhabers ſie elend gemacht haben wuͤr-
de, hatten alle Vorſtellungen, welche ihr mit ſeinem
beſtaͤndigen Beſiz ſchmeichelten, doppelte Kraft ein Herz
zu uͤberreden, welches nichts anders ſuchte, als ge-
taͤuſcht zu ſeyn. Sie bildete ſich alſo ein, daß der
Hang zu demjenigen, was man die Wolluſt der Seele
nennen kann, den weſentlichſten Zug von der Gemuͤths-
Beſchaffenheit unſers Helden ausmache. Seine Philo-
ſophie ſelbſt ſchien ihr dieſe Meynung zu beſtaͤtigen, und,
bey aller ihrer Erhabenheit uͤber den groben Materia-
liſmus des groͤſten Haufens der Sterblichen, in der That mit
den Grundſaͤzen des Ariſtippus, welche vormals ihre eigenen
geweſen waren, in dem nemlichen Punct zuſammenzu-
lauffen. Der ganze Unterſcheid ſchien ihr darinn zu
liegen, daß dieſer die Wolluſt, welche er zum lezten
Ziel der Weisheit machte, mehr in der angenehmen
Bewegung der Sinnen, den Befriedigungen eines ge-
laͤuterten Geſchmaks, und den Ergoͤzlichkeiten eines von
allen unruhigen Leidenſchaften befreyten geſelligen Le-
bens — Agathon hingegen, dieſe feinere Wolluſt,
von welcher er in den ſtillen Haynen des Delphiſchen

Tempels
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[383/0405] Siebentes Buch, neuntes Capitel. eine Hoffnung, welche vorausſezte, daß die Bezaube- rung immer dauern werde? Dieſe lezte Betrachtung machte ſie zittern; — denn ſie fuͤhlte mit einer immer zunehmenden Staͤrke, daß Agathon zu ihrer Gluͤkſeligkeit unentbehrlich ge- worden war. — Aber (ſo iſt die betruͤgliche Na- tur des menſchlichen Herzens!) eben darum, weil der Verluſt ihres Liebhabers ſie elend gemacht haben wuͤr- de, hatten alle Vorſtellungen, welche ihr mit ſeinem beſtaͤndigen Beſiz ſchmeichelten, doppelte Kraft ein Herz zu uͤberreden, welches nichts anders ſuchte, als ge- taͤuſcht zu ſeyn. Sie bildete ſich alſo ein, daß der Hang zu demjenigen, was man die Wolluſt der Seele nennen kann, den weſentlichſten Zug von der Gemuͤths- Beſchaffenheit unſers Helden ausmache. Seine Philo- ſophie ſelbſt ſchien ihr dieſe Meynung zu beſtaͤtigen, und, bey aller ihrer Erhabenheit uͤber den groben Materia- liſmus des groͤſten Haufens der Sterblichen, in der That mit den Grundſaͤzen des Ariſtippus, welche vormals ihre eigenen geweſen waren, in dem nemlichen Punct zuſammenzu- lauffen. Der ganze Unterſcheid ſchien ihr darinn zu liegen, daß dieſer die Wolluſt, welche er zum lezten Ziel der Weisheit machte, mehr in der angenehmen Bewegung der Sinnen, den Befriedigungen eines ge- laͤuterten Geſchmaks, und den Ergoͤzlichkeiten eines von allen unruhigen Leidenſchaften befreyten geſelligen Le- bens — Agathon hingegen, dieſe feinere Wolluſt, von welcher er in den ſtillen Haynen des Delphiſchen Tempels

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/405>, abgerufen am 25.04.2024.