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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, Achtes Capitel.
der Democratie und Aristocratie hin und her treiben-
den Republik, und in das moralische Chaos der bür-
gerlichen Gesellschaft, worinn Leidenschaften mit Lei-
denschaften, Absichten mit Absichten, in einem allge-
meinen und ewigen Streit gegen einander rennen, und
unter dem unharmonischen Zusammenstoß unförmlicher
Mißgestalten, nichts beständiges, noch gewisses ist,
nichts das ist, was es scheint, noch die Gestalt behält
die es hat. -- Diese Veränderung war so groß, daß ich
ihre Wirkung, auf mein Gemüth durch nichts anders zu
bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der
Betäubung, worinn nach meinem Freunde, Plato,
unsre Seele eine Zeit lang, von sich selbst entfremdet,
liegen bleibt, nachdem sie aus dem Ocean des reinen
ursprünglichen Lichts, der die überhimmlischen Räume
erfüllet, plözlich in den Schlamm des groben irdischen
Stoffes heruntergestürzt worden ist. Die Menge der
neuen Gegenstände, welche von allen Seiten auf mich
eindrang, verschlang die Erinnerung derjenigen, wel-
che mich so viele Jahre umgeben hatten; und zulezt
hatte ich fast Mühe, mich selbst zu überreden, daß ich
eben derjenige sey, der im Tempel zu Delphi den
Fremden die Merkwürdigkeiten desselben gewiesen und
erklärt hatte. So gar das Andenken meiner geliebten
Psyche wurde eine Zeit lang von diesem Nebel, der
meine Seele umzog, verdunkelt; allein dieses dauerte
nur so lange, bis ich des neuen Elements, worinn
ich izt lebte, gewohnt worden war; denn da vermißte
ich ihre Gegenwart desto lebhafter wieder, je grösser

das
A a 4

Siebentes Buch, Achtes Capitel.
der Democratie und Ariſtocratie hin und her treiben-
den Republik, und in das moraliſche Chaos der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft, worinn Leidenſchaften mit Lei-
denſchaften, Abſichten mit Abſichten, in einem allge-
meinen und ewigen Streit gegen einander rennen, und
unter dem unharmoniſchen Zuſammenſtoß unfoͤrmlicher
Mißgeſtalten, nichts beſtaͤndiges, noch gewiſſes iſt,
nichts das iſt, was es ſcheint, noch die Geſtalt behaͤlt
die es hat. ‒‒ Dieſe Veraͤnderung war ſo groß, daß ich
ihre Wirkung, auf mein Gemuͤth durch nichts anders zu
bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der
Betaͤubung, worinn nach meinem Freunde, Plato,
unſre Seele eine Zeit lang, von ſich ſelbſt entfremdet,
liegen bleibt, nachdem ſie aus dem Ocean des reinen
urſpruͤnglichen Lichts, der die uͤberhimmliſchen Raͤume
erfuͤllet, ploͤzlich in den Schlamm des groben irdiſchen
Stoffes heruntergeſtuͤrzt worden iſt. Die Menge der
neuen Gegenſtaͤnde, welche von allen Seiten auf mich
eindrang, verſchlang die Erinnerung derjenigen, wel-
che mich ſo viele Jahre umgeben hatten; und zulezt
hatte ich faſt Muͤhe, mich ſelbſt zu uͤberreden, daß ich
eben derjenige ſey, der im Tempel zu Delphi den
Fremden die Merkwuͤrdigkeiten deſſelben gewieſen und
erklaͤrt hatte. So gar das Andenken meiner geliebten
Pſyche wurde eine Zeit lang von dieſem Nebel, der
meine Seele umzog, verdunkelt; allein dieſes dauerte
nur ſo lange, bis ich des neuen Elements, worinn
ich izt lebte, gewohnt worden war; denn da vermißte
ich ihre Gegenwart deſto lebhafter wieder, je groͤſſer

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[375/0397] Siebentes Buch, Achtes Capitel. der Democratie und Ariſtocratie hin und her treiben- den Republik, und in das moraliſche Chaos der buͤr- gerlichen Geſellſchaft, worinn Leidenſchaften mit Lei- denſchaften, Abſichten mit Abſichten, in einem allge- meinen und ewigen Streit gegen einander rennen, und unter dem unharmoniſchen Zuſammenſtoß unfoͤrmlicher Mißgeſtalten, nichts beſtaͤndiges, noch gewiſſes iſt, nichts das iſt, was es ſcheint, noch die Geſtalt behaͤlt die es hat. ‒‒ Dieſe Veraͤnderung war ſo groß, daß ich ihre Wirkung, auf mein Gemuͤth durch nichts anders zu bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der Betaͤubung, worinn nach meinem Freunde, Plato, unſre Seele eine Zeit lang, von ſich ſelbſt entfremdet, liegen bleibt, nachdem ſie aus dem Ocean des reinen urſpruͤnglichen Lichts, der die uͤberhimmliſchen Raͤume erfuͤllet, ploͤzlich in den Schlamm des groben irdiſchen Stoffes heruntergeſtuͤrzt worden iſt. Die Menge der neuen Gegenſtaͤnde, welche von allen Seiten auf mich eindrang, verſchlang die Erinnerung derjenigen, wel- che mich ſo viele Jahre umgeben hatten; und zulezt hatte ich faſt Muͤhe, mich ſelbſt zu uͤberreden, daß ich eben derjenige ſey, der im Tempel zu Delphi den Fremden die Merkwuͤrdigkeiten deſſelben gewieſen und erklaͤrt hatte. So gar das Andenken meiner geliebten Pſyche wurde eine Zeit lang von dieſem Nebel, der meine Seele umzog, verdunkelt; allein dieſes dauerte nur ſo lange, bis ich des neuen Elements, worinn ich izt lebte, gewohnt worden war; denn da vermißte ich ihre Gegenwart deſto lebhafter wieder, je groͤſſer das A a 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/397>, abgerufen am 22.11.2024.