Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon. zu seyn: Aber das Volk, welches bey meinem Um-sturz nichts gewann, welches so viele Ursachen hatte, mich zu lieben, welches mich wirklich so sehr geliebt hatte, und izt durch eine blosse Folge seiner Unbestän- digkeit und Schwachheit, ohne selbst recht zu wissen, warum, sich dummer Weise zum Werkzeug fremder Leidenschaften und Absichten machen ließ; dieses Volk wurde mir so verächtlich, daß ich kein Vergnügen mehr an den Gedanken fand, ihm Gutes gethan zu haben. Diese Athenienser, die auf ihre Vorzüge vor allen andern Nationen der Welt so eitel waren, stell- ten sich meiner beleidigten Eigenliebe, als ein abschä- ziger Haufen blöder Thoren dar, die sich von einer kleinen Rotte verschmizter Spizbuben bereden liessen, weiß für schwarz anzusehen; die bey aller Feinheit ih- res Geschmaks, wenn es darauf ankam, über die Versification eines Trinklieds, oder die Füsse einer Tän- zerin zu urtheilen, weder Kenntnis noch Empfindung von Tugend und wahrem Verdienst hatten; die bey der heftigsten Eifersucht über ihre Freyheit, niemals grössere Sclaven waren, als wenn sie ihr schimärisches Palladium am tapfersten behauptet haben; die sich jederzeit der Führung ihrer übelgesinntesten Schmeich- ler mit dem blindesten Vertrauen überlassen, und nur in ihre tugendhaftesten Mitbürger, in ihre zuverläßig- sten Freunde, das grösseste Mißtrauen gesezt hatten. Sie verdienen es, sagte ich zu mir selbst, daß sie be- trogen werden; aber diesen Triumph sollen sie nicht haben, zu erleben, daß Agathon sich vor ihnen de- müthige.
Agathon. zu ſeyn: Aber das Volk, welches bey meinem Um-ſturz nichts gewann, welches ſo viele Urſachen hatte, mich zu lieben, welches mich wirklich ſo ſehr geliebt hatte, und izt durch eine bloſſe Folge ſeiner Unbeſtaͤn- digkeit und Schwachheit, ohne ſelbſt recht zu wiſſen, warum, ſich dummer Weiſe zum Werkzeug fremder Leidenſchaften und Abſichten machen ließ; dieſes Volk wurde mir ſo veraͤchtlich, daß ich kein Vergnuͤgen mehr an den Gedanken fand, ihm Gutes gethan zu haben. Dieſe Athenienſer, die auf ihre Vorzuͤge vor allen andern Nationen der Welt ſo eitel waren, ſtell- ten ſich meiner beleidigten Eigenliebe, als ein abſchaͤ- ziger Haufen bloͤder Thoren dar, die ſich von einer kleinen Rotte verſchmizter Spizbuben bereden lieſſen, weiß fuͤr ſchwarz anzuſehen; die bey aller Feinheit ih- res Geſchmaks, wenn es darauf ankam, uͤber die Verſification eines Trinklieds, oder die Fuͤſſe einer Taͤn- zerin zu urtheilen, weder Kenntnis noch Empfindung von Tugend und wahrem Verdienſt hatten; die bey der heftigſten Eiferſucht uͤber ihre Freyheit, niemals groͤſſere Sclaven waren, als wenn ſie ihr ſchimaͤriſches Palladium am tapferſten behauptet haben; die ſich jederzeit der Fuͤhrung ihrer uͤbelgeſinnteſten Schmeich- ler mit dem blindeſten Vertrauen uͤberlaſſen, und nur in ihre tugendhafteſten Mitbuͤrger, in ihre zuverlaͤßig- ſten Freunde, das groͤſſeſte Mißtrauen geſezt hatten. Sie verdienen es, ſagte ich zu mir ſelbſt, daß ſie be- trogen werden; aber dieſen Triumph ſollen ſie nicht haben, zu erleben, daß Agathon ſich vor ihnen de- muͤthige.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0386" n="364"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon</hi>.</hi></fw><lb/> zu ſeyn: Aber das Volk, welches bey meinem Um-<lb/> ſturz nichts gewann, welches ſo viele Urſachen hatte,<lb/> mich zu lieben, welches mich wirklich ſo ſehr geliebt<lb/> hatte, und izt durch eine bloſſe Folge ſeiner Unbeſtaͤn-<lb/> digkeit und Schwachheit, ohne ſelbſt recht zu wiſſen,<lb/> warum, ſich dummer Weiſe zum Werkzeug fremder<lb/> Leidenſchaften und Abſichten machen ließ; dieſes Volk<lb/> wurde mir ſo veraͤchtlich, daß ich kein Vergnuͤgen<lb/> mehr an den Gedanken fand, ihm Gutes gethan zu<lb/> haben. Dieſe Athenienſer, die auf ihre Vorzuͤge vor<lb/> allen andern Nationen der Welt ſo eitel waren, ſtell-<lb/> ten ſich meiner beleidigten Eigenliebe, als ein abſchaͤ-<lb/> ziger Haufen bloͤder Thoren dar, die ſich von einer<lb/> kleinen Rotte verſchmizter Spizbuben bereden lieſſen,<lb/> weiß fuͤr ſchwarz anzuſehen; die bey aller Feinheit ih-<lb/> res Geſchmaks, wenn es darauf ankam, uͤber die<lb/> Verſification eines Trinklieds, oder die Fuͤſſe einer Taͤn-<lb/> zerin zu urtheilen, weder Kenntnis noch Empfindung<lb/> von Tugend und wahrem Verdienſt hatten; die bey<lb/> der heftigſten Eiferſucht uͤber ihre Freyheit, niemals<lb/> groͤſſere Sclaven waren, als wenn ſie ihr ſchimaͤriſches<lb/> Palladium am tapferſten behauptet haben; die ſich<lb/> jederzeit der Fuͤhrung ihrer uͤbelgeſinnteſten Schmeich-<lb/> ler mit dem blindeſten Vertrauen uͤberlaſſen, und nur<lb/> in ihre tugendhafteſten Mitbuͤrger, in ihre zuverlaͤßig-<lb/> ſten Freunde, das groͤſſeſte Mißtrauen geſezt hatten.<lb/> Sie verdienen es, ſagte ich zu mir ſelbſt, daß ſie be-<lb/> trogen werden; aber dieſen Triumph ſollen ſie nicht<lb/> haben, zu erleben, daß Agathon ſich vor ihnen de-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">muͤthige.</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [364/0386]
Agathon.
zu ſeyn: Aber das Volk, welches bey meinem Um-
ſturz nichts gewann, welches ſo viele Urſachen hatte,
mich zu lieben, welches mich wirklich ſo ſehr geliebt
hatte, und izt durch eine bloſſe Folge ſeiner Unbeſtaͤn-
digkeit und Schwachheit, ohne ſelbſt recht zu wiſſen,
warum, ſich dummer Weiſe zum Werkzeug fremder
Leidenſchaften und Abſichten machen ließ; dieſes Volk
wurde mir ſo veraͤchtlich, daß ich kein Vergnuͤgen
mehr an den Gedanken fand, ihm Gutes gethan zu
haben. Dieſe Athenienſer, die auf ihre Vorzuͤge vor
allen andern Nationen der Welt ſo eitel waren, ſtell-
ten ſich meiner beleidigten Eigenliebe, als ein abſchaͤ-
ziger Haufen bloͤder Thoren dar, die ſich von einer
kleinen Rotte verſchmizter Spizbuben bereden lieſſen,
weiß fuͤr ſchwarz anzuſehen; die bey aller Feinheit ih-
res Geſchmaks, wenn es darauf ankam, uͤber die
Verſification eines Trinklieds, oder die Fuͤſſe einer Taͤn-
zerin zu urtheilen, weder Kenntnis noch Empfindung
von Tugend und wahrem Verdienſt hatten; die bey
der heftigſten Eiferſucht uͤber ihre Freyheit, niemals
groͤſſere Sclaven waren, als wenn ſie ihr ſchimaͤriſches
Palladium am tapferſten behauptet haben; die ſich
jederzeit der Fuͤhrung ihrer uͤbelgeſinnteſten Schmeich-
ler mit dem blindeſten Vertrauen uͤberlaſſen, und nur
in ihre tugendhafteſten Mitbuͤrger, in ihre zuverlaͤßig-
ſten Freunde, das groͤſſeſte Mißtrauen geſezt hatten.
Sie verdienen es, ſagte ich zu mir ſelbſt, daß ſie be-
trogen werden; aber dieſen Triumph ſollen ſie nicht
haben, zu erleben, daß Agathon ſich vor ihnen de-
muͤthige.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |