Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Siebentes Buch, siebentes Capitel.
können, befand sich seit einiger Zeit am Hofe des
jungen Dionysius zu Syracus. Jch gestehe, daß ich,
so lange die ersten Bewegungen dauerten, mein Un-
glük in seinem ganzen Umfang fühlte. Für ein redli-
ches, und dabey noch wenig erfahrnes Gemüth ist es
entsezlich zu empfinden, daß man sich in seiner guten
Meynung von den Menschen betrogen habe, und sich
zu der abscheulichen Wahl genöthiget zu sehen, entwe-
der in einer beständigen Unsicherheit vor der Schwach-
heit der einen, und vor der Boßheit der andern zu
leben, oder sich gänzlich aus ihrer Gesellschaft zu ver-
bannen. Aber die Kleinmüthigkeit, welche eine Folge
meiner ersten melancholischen Betrachtungen war,
dauerte nicht lange. Die Erfahrungen, die ich seit
meiner Versezung auf den Schauplaz einer grössern
Welt, in so kurzer Zeit gemacht hatte, wekten die
Erinnerungen meiner glüklichen Jugend in Delphi mit
einer Lebhaftigkeit wieder auf, worinn sie sich mir un-
ter dem Getümmel des Städtischen und politischen Le-
bens niemals dargestellt hatten. Die Bewegung mei-
nes Gemüths, die Wehmuth, wovon es durchdrungen
war, die Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von
allen den Gunstbezeugungen, womit mich das Glük
so schnell, und mit solchem Uebermaß überschüttet hatte,
nichts, als die Erinnerung, die uns von einem Traum
übrig bleibt, und von allem, was ich mein genannt
hatte, nichts als das Bewußtseyn meiner Redlichkeit,
aus Athen mit mir nehmen würde; sezten mich auf
einmal wieder in diesen glükseligen Enthusiasmus,

worinn
Z 5

Siebentes Buch, ſiebentes Capitel.
koͤnnen, befand ſich ſeit einiger Zeit am Hofe des
jungen Dionyſius zu Syracus. Jch geſtehe, daß ich,
ſo lange die erſten Bewegungen dauerten, mein Un-
gluͤk in ſeinem ganzen Umfang fuͤhlte. Fuͤr ein redli-
ches, und dabey noch wenig erfahrnes Gemuͤth iſt es
entſezlich zu empfinden, daß man ſich in ſeiner guten
Meynung von den Menſchen betrogen habe, und ſich
zu der abſcheulichen Wahl genoͤthiget zu ſehen, entwe-
der in einer beſtaͤndigen Unſicherheit vor der Schwach-
heit der einen, und vor der Boßheit der andern zu
leben, oder ſich gaͤnzlich aus ihrer Geſellſchaft zu ver-
bannen. Aber die Kleinmuͤthigkeit, welche eine Folge
meiner erſten melancholiſchen Betrachtungen war,
dauerte nicht lange. Die Erfahrungen, die ich ſeit
meiner Verſezung auf den Schauplaz einer groͤſſern
Welt, in ſo kurzer Zeit gemacht hatte, wekten die
Erinnerungen meiner gluͤklichen Jugend in Delphi mit
einer Lebhaftigkeit wieder auf, worinn ſie ſich mir un-
ter dem Getuͤmmel des Staͤdtiſchen und politiſchen Le-
bens niemals dargeſtellt hatten. Die Bewegung mei-
nes Gemuͤths, die Wehmuth, wovon es durchdrungen
war, die Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von
allen den Gunſtbezeugungen, womit mich das Gluͤk
ſo ſchnell, und mit ſolchem Uebermaß uͤberſchuͤttet hatte,
nichts, als die Erinnerung, die uns von einem Traum
uͤbrig bleibt, und von allem, was ich mein genannt
hatte, nichts als das Bewußtſeyn meiner Redlichkeit,
aus Athen mit mir nehmen wuͤrde; ſezten mich auf
einmal wieder in dieſen gluͤkſeligen Enthuſiasmus,

worinn
Z 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0383" n="361"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Siebentes Buch, &#x017F;iebentes Capitel.</hi></fw><lb/>
ko&#x0364;nnen, befand &#x017F;ich &#x017F;eit einiger Zeit am Hofe des<lb/>
jungen Diony&#x017F;ius zu Syracus. Jch ge&#x017F;tehe, daß ich,<lb/>
&#x017F;o lange die er&#x017F;ten Bewegungen dauerten, mein Un-<lb/>
glu&#x0364;k in &#x017F;einem ganzen Umfang fu&#x0364;hlte. Fu&#x0364;r ein redli-<lb/>
ches, und dabey noch wenig erfahrnes Gemu&#x0364;th i&#x017F;t es<lb/>
ent&#x017F;ezlich zu empfinden, daß man &#x017F;ich in &#x017F;einer guten<lb/>
Meynung von den Men&#x017F;chen betrogen habe, und &#x017F;ich<lb/>
zu der ab&#x017F;cheulichen Wahl geno&#x0364;thiget zu &#x017F;ehen, entwe-<lb/>
der in einer be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Un&#x017F;icherheit vor der Schwach-<lb/>
heit der einen, und vor der Boßheit der andern zu<lb/>
leben, oder &#x017F;ich ga&#x0364;nzlich aus ihrer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zu ver-<lb/>
bannen. Aber die Kleinmu&#x0364;thigkeit, welche eine Folge<lb/>
meiner er&#x017F;ten melancholi&#x017F;chen Betrachtungen war,<lb/>
dauerte nicht lange. Die Erfahrungen, die ich &#x017F;eit<lb/>
meiner Ver&#x017F;ezung auf den Schauplaz einer gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern<lb/>
Welt, in &#x017F;o kurzer Zeit gemacht hatte, wekten die<lb/>
Erinnerungen meiner glu&#x0364;klichen Jugend in Delphi mit<lb/>
einer Lebhaftigkeit wieder auf, worinn &#x017F;ie &#x017F;ich mir un-<lb/>
ter dem Getu&#x0364;mmel des Sta&#x0364;dti&#x017F;chen und politi&#x017F;chen Le-<lb/>
bens niemals darge&#x017F;tellt hatten. Die Bewegung mei-<lb/>
nes Gemu&#x0364;ths, die Wehmuth, wovon es durchdrungen<lb/>
war, die Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von<lb/>
allen den Gun&#x017F;tbezeugungen, womit mich das Glu&#x0364;k<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chnell, und mit &#x017F;olchem Uebermaß u&#x0364;ber&#x017F;chu&#x0364;ttet hatte,<lb/>
nichts, als die Erinnerung, die uns von einem Traum<lb/>
u&#x0364;brig bleibt, und von allem, was ich mein genannt<lb/>
hatte, nichts als das Bewußt&#x017F;eyn meiner Redlichkeit,<lb/>
aus Athen mit mir nehmen wu&#x0364;rde; &#x017F;ezten mich auf<lb/>
einmal wieder in die&#x017F;en glu&#x0364;k&#x017F;eligen Enthu&#x017F;iasmus,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Z 5</fw><fw place="bottom" type="catch">worinn</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[361/0383] Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. koͤnnen, befand ſich ſeit einiger Zeit am Hofe des jungen Dionyſius zu Syracus. Jch geſtehe, daß ich, ſo lange die erſten Bewegungen dauerten, mein Un- gluͤk in ſeinem ganzen Umfang fuͤhlte. Fuͤr ein redli- ches, und dabey noch wenig erfahrnes Gemuͤth iſt es entſezlich zu empfinden, daß man ſich in ſeiner guten Meynung von den Menſchen betrogen habe, und ſich zu der abſcheulichen Wahl genoͤthiget zu ſehen, entwe- der in einer beſtaͤndigen Unſicherheit vor der Schwach- heit der einen, und vor der Boßheit der andern zu leben, oder ſich gaͤnzlich aus ihrer Geſellſchaft zu ver- bannen. Aber die Kleinmuͤthigkeit, welche eine Folge meiner erſten melancholiſchen Betrachtungen war, dauerte nicht lange. Die Erfahrungen, die ich ſeit meiner Verſezung auf den Schauplaz einer groͤſſern Welt, in ſo kurzer Zeit gemacht hatte, wekten die Erinnerungen meiner gluͤklichen Jugend in Delphi mit einer Lebhaftigkeit wieder auf, worinn ſie ſich mir un- ter dem Getuͤmmel des Staͤdtiſchen und politiſchen Le- bens niemals dargeſtellt hatten. Die Bewegung mei- nes Gemuͤths, die Wehmuth, wovon es durchdrungen war, die Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von allen den Gunſtbezeugungen, womit mich das Gluͤk ſo ſchnell, und mit ſolchem Uebermaß uͤberſchuͤttet hatte, nichts, als die Erinnerung, die uns von einem Traum uͤbrig bleibt, und von allem, was ich mein genannt hatte, nichts als das Bewußtſeyn meiner Redlichkeit, aus Athen mit mir nehmen wuͤrde; ſezten mich auf einmal wieder in dieſen gluͤkſeligen Enthuſiasmus, worinn Z 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/383
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/383>, abgerufen am 05.05.2024.