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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, sechstes Capitel.
eben so schnell, als ich empor gehoben wurde, so wol
durch meine eigene Vermessenheit, als durch den Neid
meiner Nebenbuhler wieder gestürzt zu werden.

Die Beredsamkeit ist in Athen, und in allen Frey-
staaten, wo das Volk Antheil an der öffentlichen Ver-
waltung hat, der nächste Weg zu Ehrenstellen, und
das gewisseste Mittel sich auch ohne dieselben Ansehen
und Einfluß zu verschaffen. Jch ließ es mir also sehr
angelegen seyn, die Geheimnisse einer Kunst zu studie-
ren, von deren Ausübung und dem Grade der Geschik-
lichkeit, den ich mir darinn erwerben würde, die glük-
liche Ausführung aller meiner Entwürfe abzuhangen
schien. Denn wenn ich bedachte, wozu Perikles und
Alcibiades die Athenienser zu bereden gewußt hatten:
So zweifelte ich keinen Augenblik, daß ich sie mit ei-
ner gleichen Geschiklichkeit zu Maßnehmungen würde
überreden können, welche, ausserdem, daß sie an sich
selbst edler waren, zu weit glänzendern Vortheilen
führten, ohne so ungewiß und gefährlich zu seyn. Jn
dieser Absicht besuchte ich die Schule des Platons, wel-
cher damals zu Athen in seinem grössesten Ansehen stund,
und indem er die Weisheit des Socrates mit der Be-
redsamkeit eines Gorgias und Prodicus vereinigte, nach
dem Urtheil meiner alten Freunde, weit geschikter, als
diese Wortkünstler, war, einen Redner zu bilden, der
vielmehr durch die Stärke der Wahrheit, als durch
die Blendwerke und Kunstgriffe einer hinterlistigen
Dialectik sich die Gemüther seiner Zuhörer unterwerfen

wollte.

Siebentes Buch, ſechstes Capitel.
eben ſo ſchnell, als ich empor gehoben wurde, ſo wol
durch meine eigene Vermeſſenheit, als durch den Neid
meiner Nebenbuhler wieder geſtuͤrzt zu werden.

Die Beredſamkeit iſt in Athen, und in allen Frey-
ſtaaten, wo das Volk Antheil an der oͤffentlichen Ver-
waltung hat, der naͤchſte Weg zu Ehrenſtellen, und
das gewiſſeſte Mittel ſich auch ohne dieſelben Anſehen
und Einfluß zu verſchaffen. Jch ließ es mir alſo ſehr
angelegen ſeyn, die Geheimniſſe einer Kunſt zu ſtudie-
ren, von deren Ausuͤbung und dem Grade der Geſchik-
lichkeit, den ich mir darinn erwerben wuͤrde, die gluͤk-
liche Ausfuͤhrung aller meiner Entwuͤrfe abzuhangen
ſchien. Denn wenn ich bedachte, wozu Perikles und
Alcibiades die Athenienſer zu bereden gewußt hatten:
So zweifelte ich keinen Augenblik, daß ich ſie mit ei-
ner gleichen Geſchiklichkeit zu Maßnehmungen wuͤrde
uͤberreden koͤnnen, welche, auſſerdem, daß ſie an ſich
ſelbſt edler waren, zu weit glaͤnzendern Vortheilen
fuͤhrten, ohne ſo ungewiß und gefaͤhrlich zu ſeyn. Jn
dieſer Abſicht beſuchte ich die Schule des Platons, wel-
cher damals zu Athen in ſeinem groͤſſeſten Anſehen ſtund,
und indem er die Weisheit des Socrates mit der Be-
redſamkeit eines Gorgias und Prodicus vereinigte, nach
dem Urtheil meiner alten Freunde, weit geſchikter, als
dieſe Wortkuͤnſtler, war, einen Redner zu bilden, der
vielmehr durch die Staͤrke der Wahrheit, als durch
die Blendwerke und Kunſtgriffe einer hinterliſtigen
Dialectik ſich die Gemuͤther ſeiner Zuhoͤrer unterwerfen

wollte.
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[333/0355] Siebentes Buch, ſechstes Capitel. eben ſo ſchnell, als ich empor gehoben wurde, ſo wol durch meine eigene Vermeſſenheit, als durch den Neid meiner Nebenbuhler wieder geſtuͤrzt zu werden. Die Beredſamkeit iſt in Athen, und in allen Frey- ſtaaten, wo das Volk Antheil an der oͤffentlichen Ver- waltung hat, der naͤchſte Weg zu Ehrenſtellen, und das gewiſſeſte Mittel ſich auch ohne dieſelben Anſehen und Einfluß zu verſchaffen. Jch ließ es mir alſo ſehr angelegen ſeyn, die Geheimniſſe einer Kunſt zu ſtudie- ren, von deren Ausuͤbung und dem Grade der Geſchik- lichkeit, den ich mir darinn erwerben wuͤrde, die gluͤk- liche Ausfuͤhrung aller meiner Entwuͤrfe abzuhangen ſchien. Denn wenn ich bedachte, wozu Perikles und Alcibiades die Athenienſer zu bereden gewußt hatten: So zweifelte ich keinen Augenblik, daß ich ſie mit ei- ner gleichen Geſchiklichkeit zu Maßnehmungen wuͤrde uͤberreden koͤnnen, welche, auſſerdem, daß ſie an ſich ſelbſt edler waren, zu weit glaͤnzendern Vortheilen fuͤhrten, ohne ſo ungewiß und gefaͤhrlich zu ſeyn. Jn dieſer Abſicht beſuchte ich die Schule des Platons, wel- cher damals zu Athen in ſeinem groͤſſeſten Anſehen ſtund, und indem er die Weisheit des Socrates mit der Be- redſamkeit eines Gorgias und Prodicus vereinigte, nach dem Urtheil meiner alten Freunde, weit geſchikter, als dieſe Wortkuͤnſtler, war, einen Redner zu bilden, der vielmehr durch die Staͤrke der Wahrheit, als durch die Blendwerke und Kunſtgriffe einer hinterliſtigen Dialectik ſich die Gemuͤther ſeiner Zuhoͤrer unterwerfen wollte.

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/355>, abgerufen am 22.11.2024.