Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
ter der väterlichen Gewalt stuhnd. Sein Vater war
das Haupt eines von den edelsten Geschlechtern in
Athen. Meine Mutter war sehr jung, sehr schön,
und eben so tugendhaft als schön, unter der Aufsicht
einer alten Frau, die sich ihre Mutter nannte, dahin
gekommen. Die strenge Eingezogenheit, worinn sie
sehr kümmerlich von ihrer Hand-Arbeit lebte, verwahrte
die junge Musarion vor den Augen und vor den Nach-
stellungen der müssigen reichen Jünglinge, welche ge-
wohnt sind, junge Mädchen, die keinen andern Schuz
als ihre Unschuld, und keinen andern Reichthum als
ihre Reizungen haben, für ihre natürliche Beute anzu-
sehen. Dem ungeachtet konnte sie nicht verhintern,
durch einen Zufall, den ich übergehen will, meinem
Vater bekannt zu werden, welcher sich durch seine ge-
sittete und bescheidene Lebens-Art von den meisten jun-
gen Atheniensern seiner Zeit unterschied. Sein tugend-
hafter Character konnte ihn nicht verwahren, von den
Reizungen der jungen Musarion gerührt zu werden;
aber er machte, daß seine Liebe die Eigenschaft seines
Characters annahm. Sie war tugendhaft, beschei-
den, und eben dadurch stärker und dauerhafter. Sein
Stand, sein guter Ruf und sein zurükhaltendes Betra-
gen gegen den unschuldigen Gegenstand seiner Liebe ga-
ben zusammengenommen einen Beweg-Grund ab, der
die Nachsicht entschuldigen konnte, womit die Alte seine
geheime Besuche duldete, ob sie gleich immer häufiger
wurden. Nichts kann natürlicher seyn, als dasjenige,
was man liebt, dem Mangel nicht ausgesezt sehen zu

können;

Agathon.
ter der vaͤterlichen Gewalt ſtuhnd. Sein Vater war
das Haupt eines von den edelſten Geſchlechtern in
Athen. Meine Mutter war ſehr jung, ſehr ſchoͤn,
und eben ſo tugendhaft als ſchoͤn, unter der Aufſicht
einer alten Frau, die ſich ihre Mutter nannte, dahin
gekommen. Die ſtrenge Eingezogenheit, worinn ſie
ſehr kuͤmmerlich von ihrer Hand-Arbeit lebte, verwahrte
die junge Muſarion vor den Augen und vor den Nach-
ſtellungen der muͤſſigen reichen Juͤnglinge, welche ge-
wohnt ſind, junge Maͤdchen, die keinen andern Schuz
als ihre Unſchuld, und keinen andern Reichthum als
ihre Reizungen haben, fuͤr ihre natuͤrliche Beute anzu-
ſehen. Dem ungeachtet konnte ſie nicht verhintern,
durch einen Zufall, den ich uͤbergehen will, meinem
Vater bekannt zu werden, welcher ſich durch ſeine ge-
ſittete und beſcheidene Lebens-Art von den meiſten jun-
gen Athenienſern ſeiner Zeit unterſchied. Sein tugend-
hafter Character konnte ihn nicht verwahren, von den
Reizungen der jungen Muſarion geruͤhrt zu werden;
aber er machte, daß ſeine Liebe die Eigenſchaft ſeines
Characters annahm. Sie war tugendhaft, beſchei-
den, und eben dadurch ſtaͤrker und dauerhafter. Sein
Stand, ſein guter Ruf und ſein zuruͤkhaltendes Betra-
gen gegen den unſchuldigen Gegenſtand ſeiner Liebe ga-
ben zuſammengenommen einen Beweg-Grund ab, der
die Nachſicht entſchuldigen konnte, womit die Alte ſeine
geheime Beſuche duldete, ob ſie gleich immer haͤufiger
wurden. Nichts kann natuͤrlicher ſeyn, als dasjenige,
was man liebt, dem Mangel nicht ausgeſezt ſehen zu

koͤnnen;
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0344" n="322"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
ter der va&#x0364;terlichen Gewalt &#x017F;tuhnd. Sein Vater war<lb/>
das Haupt eines von den edel&#x017F;ten Ge&#x017F;chlechtern in<lb/>
Athen. Meine Mutter war &#x017F;ehr jung, &#x017F;ehr &#x017F;cho&#x0364;n,<lb/>
und eben &#x017F;o tugendhaft als &#x017F;cho&#x0364;n, unter der Auf&#x017F;icht<lb/>
einer alten Frau, die &#x017F;ich ihre Mutter nannte, dahin<lb/>
gekommen. Die &#x017F;trenge Eingezogenheit, worinn &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ehr ku&#x0364;mmerlich von ihrer Hand-Arbeit lebte, verwahrte<lb/>
die junge Mu&#x017F;arion vor den Augen und vor den Nach-<lb/>
&#x017F;tellungen der mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen reichen Ju&#x0364;nglinge, welche ge-<lb/>
wohnt &#x017F;ind, junge Ma&#x0364;dchen, die keinen andern Schuz<lb/>
als ihre Un&#x017F;chuld, und keinen andern Reichthum als<lb/>
ihre Reizungen haben, fu&#x0364;r ihre natu&#x0364;rliche Beute anzu-<lb/>
&#x017F;ehen. Dem ungeachtet konnte &#x017F;ie nicht verhintern,<lb/>
durch einen Zufall, den ich u&#x0364;bergehen will, meinem<lb/>
Vater bekannt zu werden, welcher &#x017F;ich durch &#x017F;eine ge-<lb/>
&#x017F;ittete und be&#x017F;cheidene Lebens-Art von den mei&#x017F;ten jun-<lb/>
gen Athenien&#x017F;ern &#x017F;einer Zeit unter&#x017F;chied. Sein tugend-<lb/>
hafter Character konnte ihn nicht verwahren, von den<lb/>
Reizungen der jungen Mu&#x017F;arion geru&#x0364;hrt zu werden;<lb/>
aber er machte, daß &#x017F;eine Liebe die Eigen&#x017F;chaft &#x017F;eines<lb/>
Characters annahm. Sie war tugendhaft, be&#x017F;chei-<lb/>
den, und eben dadurch &#x017F;ta&#x0364;rker und dauerhafter. Sein<lb/>
Stand, &#x017F;ein guter Ruf und &#x017F;ein zuru&#x0364;khaltendes Betra-<lb/>
gen gegen den un&#x017F;chuldigen Gegen&#x017F;tand &#x017F;einer Liebe ga-<lb/>
ben zu&#x017F;ammengenommen einen Beweg-Grund ab, der<lb/>
die Nach&#x017F;icht ent&#x017F;chuldigen konnte, womit die Alte &#x017F;eine<lb/>
geheime Be&#x017F;uche duldete, ob &#x017F;ie gleich immer ha&#x0364;ufiger<lb/>
wurden. Nichts kann natu&#x0364;rlicher &#x017F;eyn, als dasjenige,<lb/>
was man liebt, dem Mangel nicht ausge&#x017F;ezt &#x017F;ehen zu<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ko&#x0364;nnen;</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0344] Agathon. ter der vaͤterlichen Gewalt ſtuhnd. Sein Vater war das Haupt eines von den edelſten Geſchlechtern in Athen. Meine Mutter war ſehr jung, ſehr ſchoͤn, und eben ſo tugendhaft als ſchoͤn, unter der Aufſicht einer alten Frau, die ſich ihre Mutter nannte, dahin gekommen. Die ſtrenge Eingezogenheit, worinn ſie ſehr kuͤmmerlich von ihrer Hand-Arbeit lebte, verwahrte die junge Muſarion vor den Augen und vor den Nach- ſtellungen der muͤſſigen reichen Juͤnglinge, welche ge- wohnt ſind, junge Maͤdchen, die keinen andern Schuz als ihre Unſchuld, und keinen andern Reichthum als ihre Reizungen haben, fuͤr ihre natuͤrliche Beute anzu- ſehen. Dem ungeachtet konnte ſie nicht verhintern, durch einen Zufall, den ich uͤbergehen will, meinem Vater bekannt zu werden, welcher ſich durch ſeine ge- ſittete und beſcheidene Lebens-Art von den meiſten jun- gen Athenienſern ſeiner Zeit unterſchied. Sein tugend- hafter Character konnte ihn nicht verwahren, von den Reizungen der jungen Muſarion geruͤhrt zu werden; aber er machte, daß ſeine Liebe die Eigenſchaft ſeines Characters annahm. Sie war tugendhaft, beſchei- den, und eben dadurch ſtaͤrker und dauerhafter. Sein Stand, ſein guter Ruf und ſein zuruͤkhaltendes Betra- gen gegen den unſchuldigen Gegenſtand ſeiner Liebe ga- ben zuſammengenommen einen Beweg-Grund ab, der die Nachſicht entſchuldigen konnte, womit die Alte ſeine geheime Beſuche duldete, ob ſie gleich immer haͤufiger wurden. Nichts kann natuͤrlicher ſeyn, als dasjenige, was man liebt, dem Mangel nicht ausgeſezt ſehen zu koͤnnen;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/344
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/344>, abgerufen am 22.07.2024.