Es ist eine alte Bemerkung, daß man einer schö- nen Dame die Zeit nur schlecht vertreibt, wenn man sie von den Eindrüken, die eine andre auf unser Herz gemacht hat, unterhält. Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, je mehr Beredsamkeit wir in einem solchen Falle zeigen, je reizender unsre Schilderungen, je schö- ner unsre Bilder, je beseelter unser Ausdruk ist, desto gewisser dürfen wir uns versprechen, unsre Zuhörerin einzuschläfern. Diese Beobachtung sollten sich besonders diejenigen empfohlen seyn lassen, welche eine würklich im Besiz stehende Geliebte mit der Geschichte ihrer ehe- maligen verliebten Abentheuer unterhalten. Agathon, welcher noch weit davon entfernt war, von seiner Einbildungs-Kraft Meister zu seyn, hatte diese Regel gänzlich aus den Augen verlohren, da er einmal auf die Erzählung seiner ersten Liebe gekommen war. Die Lebhaftigkeit seiner Wiedererinnerungen schien sie in Empfindungen zu verwandeln; er bedachte nicht, daß es weniger anstössig wäre, eine Geliebte, wie Danae, mit der ganzen Metaphysik der intellectualischen Liebe, als mit so enthusiastischen Beschreibungen der Vorzüge einer andern, und der Empfindungen, welche sie ein- geflößt, zu unterhalten. Eine Art von Mittelding zwi-
schen
T 3
Siebentes Buch, viertes Capitel.
Viertes Capitel. Fortſezung des Vorhergehenden.
Es iſt eine alte Bemerkung, daß man einer ſchoͤ- nen Dame die Zeit nur ſchlecht vertreibt, wenn man ſie von den Eindruͤken, die eine andre auf unſer Herz gemacht hat, unterhaͤlt. Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, je mehr Beredſamkeit wir in einem ſolchen Falle zeigen, je reizender unſre Schilderungen, je ſchoͤ- ner unſre Bilder, je beſeelter unſer Ausdruk iſt, deſto gewiſſer duͤrfen wir uns verſprechen, unſre Zuhoͤrerin einzuſchlaͤfern. Dieſe Beobachtung ſollten ſich beſonders diejenigen empfohlen ſeyn laſſen, welche eine wuͤrklich im Beſiz ſtehende Geliebte mit der Geſchichte ihrer ehe- maligen verliebten Abentheuer unterhalten. Agathon, welcher noch weit davon entfernt war, von ſeiner Einbildungs-Kraft Meiſter zu ſeyn, hatte dieſe Regel gaͤnzlich aus den Augen verlohren, da er einmal auf die Erzaͤhlung ſeiner erſten Liebe gekommen war. Die Lebhaftigkeit ſeiner Wiedererinnerungen ſchien ſie in Empfindungen zu verwandeln; er bedachte nicht, daß es weniger anſtoͤſſig waͤre, eine Geliebte, wie Danae, mit der ganzen Metaphyſik der intellectualiſchen Liebe, als mit ſo enthuſiaſtiſchen Beſchreibungen der Vorzuͤge einer andern, und der Empfindungen, welche ſie ein- gefloͤßt, zu unterhalten. Eine Art von Mittelding zwi-
ſchen
T 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0315"n="293"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Siebentes Buch, viertes Capitel.</hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Viertes Capitel.</hi><lb/>
Fortſezung des Vorhergehenden.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>s iſt eine alte Bemerkung, daß man einer ſchoͤ-<lb/>
nen Dame die Zeit nur ſchlecht vertreibt, wenn man<lb/>ſie von den Eindruͤken, die eine andre auf unſer Herz<lb/>
gemacht hat, unterhaͤlt. Je mehr Feuer, je mehr<lb/>
Wahrheit, je mehr Beredſamkeit wir in einem ſolchen<lb/>
Falle zeigen, je reizender unſre Schilderungen, je ſchoͤ-<lb/>
ner unſre Bilder, je beſeelter unſer Ausdruk iſt, deſto<lb/>
gewiſſer duͤrfen wir uns verſprechen, unſre Zuhoͤrerin<lb/>
einzuſchlaͤfern. Dieſe Beobachtung ſollten ſich beſonders<lb/>
diejenigen empfohlen ſeyn laſſen, welche eine wuͤrklich<lb/>
im Beſiz ſtehende Geliebte mit der Geſchichte ihrer ehe-<lb/>
maligen verliebten Abentheuer unterhalten. Agathon,<lb/>
welcher noch weit davon entfernt war, von ſeiner<lb/>
Einbildungs-Kraft Meiſter zu ſeyn, hatte dieſe Regel<lb/>
gaͤnzlich aus den Augen verlohren, da er einmal auf die<lb/>
Erzaͤhlung ſeiner erſten Liebe gekommen war. Die<lb/>
Lebhaftigkeit ſeiner Wiedererinnerungen ſchien ſie in<lb/>
Empfindungen zu verwandeln; er bedachte nicht, daß<lb/>
es weniger anſtoͤſſig waͤre, eine Geliebte, wie Danae,<lb/>
mit der ganzen Metaphyſik der intellectualiſchen Liebe,<lb/>
als mit ſo enthuſiaſtiſchen Beſchreibungen der Vorzuͤge<lb/>
einer andern, und der Empfindungen, welche ſie ein-<lb/>
gefloͤßt, zu unterhalten. Eine Art von Mittelding zwi-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">T 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſchen</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[293/0315]
Siebentes Buch, viertes Capitel.
Viertes Capitel.
Fortſezung des Vorhergehenden.
Es iſt eine alte Bemerkung, daß man einer ſchoͤ-
nen Dame die Zeit nur ſchlecht vertreibt, wenn man
ſie von den Eindruͤken, die eine andre auf unſer Herz
gemacht hat, unterhaͤlt. Je mehr Feuer, je mehr
Wahrheit, je mehr Beredſamkeit wir in einem ſolchen
Falle zeigen, je reizender unſre Schilderungen, je ſchoͤ-
ner unſre Bilder, je beſeelter unſer Ausdruk iſt, deſto
gewiſſer duͤrfen wir uns verſprechen, unſre Zuhoͤrerin
einzuſchlaͤfern. Dieſe Beobachtung ſollten ſich beſonders
diejenigen empfohlen ſeyn laſſen, welche eine wuͤrklich
im Beſiz ſtehende Geliebte mit der Geſchichte ihrer ehe-
maligen verliebten Abentheuer unterhalten. Agathon,
welcher noch weit davon entfernt war, von ſeiner
Einbildungs-Kraft Meiſter zu ſeyn, hatte dieſe Regel
gaͤnzlich aus den Augen verlohren, da er einmal auf die
Erzaͤhlung ſeiner erſten Liebe gekommen war. Die
Lebhaftigkeit ſeiner Wiedererinnerungen ſchien ſie in
Empfindungen zu verwandeln; er bedachte nicht, daß
es weniger anſtoͤſſig waͤre, eine Geliebte, wie Danae,
mit der ganzen Metaphyſik der intellectualiſchen Liebe,
als mit ſo enthuſiaſtiſchen Beſchreibungen der Vorzuͤge
einer andern, und der Empfindungen, welche ſie ein-
gefloͤßt, zu unterhalten. Eine Art von Mittelding zwi-
ſchen
T 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/315>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.