Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Siebentes Buch, drittes Capitel. hatte überraschen wollen. Aber die gute Dame wuß-te entweder nicht, wie viel man bey gewissen Leu- ten gewonnen, wenn man Mittel findet, ihr Herz auf seine Seite zu ziehen; oder sie war über mein seltsames Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Rei- zungen nicht besser rächen zu können, als wenn sie mich in eben dem Augenblik von sich entfernte, da sie in meinen Augen las, daß ich gerne länger geblieben wäre. Alles Bitten, daß sie ihre Gütigkeit durch eine deutli- chere Entdekung des Geheimnisses meiner Geburt voll- kommen machen möchte, war umsonst; sie schikte mich fort, und hatte Grausamkeit genug, eine geraume Zeit vorbey gehen zu lassen, eh sie mich wieder vor sich kommen ließ. Zu einer andern Zeit würde das Ver- langen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu danken hätte, mir diesen Aufschub zu einer harten Strafe gemacht haben; aber damals brauchte es nur wenige Minuten, wieder allein zu seyn, und einen Ge- danken an meine geliebte Unbekannte, um die Priesterin mit allen ihren Reizen, und mit allem was sie mir ge- sagt und nicht gesagt hatte, aus meinem Gemüthe wie- der auszulöschen. Es war mir unendlich mal angelege- ner zu wissen, wer diese Unbekannte sey, und ob sie würklich (wie ich mir schmeichelte) für mich empfinde, was ich für sie empfand, als in Absicht meiner selbst aus einer Unwissenheit gezogen zu werden, gegen welche die Gewohnheit mich fast ganz gleichgültig gemacht hatte: So lange ich das nicht wußte, würde ich die Ent- dekung, der Erbe eines Königs zu seyn, mit Kaltsinn angesehen T 2
Siebentes Buch, drittes Capitel. hatte uͤberraſchen wollen. Aber die gute Dame wuß-te entweder nicht, wie viel man bey gewiſſen Leu- ten gewonnen, wenn man Mittel findet, ihr Herz auf ſeine Seite zu ziehen; oder ſie war uͤber mein ſeltſames Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Rei- zungen nicht beſſer raͤchen zu koͤnnen, als wenn ſie mich in eben dem Augenblik von ſich entfernte, da ſie in meinen Augen las, daß ich gerne laͤnger geblieben waͤre. Alles Bitten, daß ſie ihre Guͤtigkeit durch eine deutli- chere Entdekung des Geheimniſſes meiner Geburt voll- kommen machen moͤchte, war umſonſt; ſie ſchikte mich fort, und hatte Grauſamkeit genug, eine geraume Zeit vorbey gehen zu laſſen, eh ſie mich wieder vor ſich kommen ließ. Zu einer andern Zeit wuͤrde das Ver- langen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu danken haͤtte, mir dieſen Aufſchub zu einer harten Strafe gemacht haben; aber damals brauchte es nur wenige Minuten, wieder allein zu ſeyn, und einen Ge- danken an meine geliebte Unbekannte, um die Prieſterin mit allen ihren Reizen, und mit allem was ſie mir ge- ſagt und nicht geſagt hatte, aus meinem Gemuͤthe wie- der auszuloͤſchen. Es war mir unendlich mal angelege- ner zu wiſſen, wer dieſe Unbekannte ſey, und ob ſie wuͤrklich (wie ich mir ſchmeichelte) fuͤr mich empfinde, was ich fuͤr ſie empfand, als in Abſicht meiner ſelbſt aus einer Unwiſſenheit gezogen zu werden, gegen welche die Gewohnheit mich faſt ganz gleichguͤltig gemacht hatte: So lange ich das nicht wußte, wuͤrde ich die Ent- dekung, der Erbe eines Koͤnigs zu ſeyn, mit Kaltſinn angeſehen T 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0313" n="291"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Siebentes Buch, drittes Capitel.</hi></fw><lb/> hatte uͤberraſchen wollen. Aber die gute Dame wuß-<lb/> te entweder nicht, wie viel man bey gewiſſen Leu-<lb/> ten gewonnen, wenn man Mittel findet, ihr Herz auf<lb/> ſeine Seite zu ziehen; oder ſie war uͤber mein ſeltſames<lb/> Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Rei-<lb/> zungen nicht beſſer raͤchen zu koͤnnen, als wenn ſie mich<lb/> in eben dem Augenblik von ſich entfernte, da ſie in<lb/> meinen Augen las, daß ich gerne laͤnger geblieben waͤre.<lb/> Alles Bitten, daß ſie ihre Guͤtigkeit durch eine deutli-<lb/> chere Entdekung des Geheimniſſes meiner Geburt voll-<lb/> kommen machen moͤchte, war umſonſt; ſie ſchikte mich<lb/> fort, und hatte Grauſamkeit genug, eine geraume Zeit<lb/> vorbey gehen zu laſſen, eh ſie mich wieder vor ſich<lb/> kommen ließ. Zu einer andern Zeit wuͤrde das Ver-<lb/> langen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu<lb/> danken haͤtte, mir dieſen Aufſchub zu einer harten<lb/> Strafe gemacht haben; aber damals brauchte es nur<lb/> wenige Minuten, wieder allein zu ſeyn, und einen Ge-<lb/> danken an meine geliebte Unbekannte, um die Prieſterin<lb/> mit allen ihren Reizen, und mit allem was ſie mir ge-<lb/> ſagt und nicht geſagt hatte, aus meinem Gemuͤthe wie-<lb/> der auszuloͤſchen. Es war mir unendlich mal angelege-<lb/> ner zu wiſſen, wer dieſe Unbekannte ſey, und ob ſie<lb/> wuͤrklich (wie ich mir ſchmeichelte) fuͤr mich empfinde,<lb/> was ich fuͤr ſie empfand, als in Abſicht meiner ſelbſt<lb/> aus einer Unwiſſenheit gezogen zu werden, gegen welche<lb/> die Gewohnheit mich faſt ganz gleichguͤltig gemacht<lb/> hatte: So lange ich das nicht wußte, wuͤrde ich die Ent-<lb/> dekung, der Erbe eines Koͤnigs zu ſeyn, mit Kaltſinn<lb/> <fw place="bottom" type="sig">T 2</fw><fw place="bottom" type="catch">angeſehen</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [291/0313]
Siebentes Buch, drittes Capitel.
hatte uͤberraſchen wollen. Aber die gute Dame wuß-
te entweder nicht, wie viel man bey gewiſſen Leu-
ten gewonnen, wenn man Mittel findet, ihr Herz auf
ſeine Seite zu ziehen; oder ſie war uͤber mein ſeltſames
Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Rei-
zungen nicht beſſer raͤchen zu koͤnnen, als wenn ſie mich
in eben dem Augenblik von ſich entfernte, da ſie in
meinen Augen las, daß ich gerne laͤnger geblieben waͤre.
Alles Bitten, daß ſie ihre Guͤtigkeit durch eine deutli-
chere Entdekung des Geheimniſſes meiner Geburt voll-
kommen machen moͤchte, war umſonſt; ſie ſchikte mich
fort, und hatte Grauſamkeit genug, eine geraume Zeit
vorbey gehen zu laſſen, eh ſie mich wieder vor ſich
kommen ließ. Zu einer andern Zeit wuͤrde das Ver-
langen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu
danken haͤtte, mir dieſen Aufſchub zu einer harten
Strafe gemacht haben; aber damals brauchte es nur
wenige Minuten, wieder allein zu ſeyn, und einen Ge-
danken an meine geliebte Unbekannte, um die Prieſterin
mit allen ihren Reizen, und mit allem was ſie mir ge-
ſagt und nicht geſagt hatte, aus meinem Gemuͤthe wie-
der auszuloͤſchen. Es war mir unendlich mal angelege-
ner zu wiſſen, wer dieſe Unbekannte ſey, und ob ſie
wuͤrklich (wie ich mir ſchmeichelte) fuͤr mich empfinde,
was ich fuͤr ſie empfand, als in Abſicht meiner ſelbſt
aus einer Unwiſſenheit gezogen zu werden, gegen welche
die Gewohnheit mich faſt ganz gleichguͤltig gemacht
hatte: So lange ich das nicht wußte, wuͤrde ich die Ent-
dekung, der Erbe eines Koͤnigs zu ſeyn, mit Kaltſinn
angeſehen
T 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |