Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch, zweytes Capitel.
Mänaden in Erstaunen. Ein Jüngling von einer sol-
chen Gestalt, an einem solchen Ort, zu einer solchen
Zeit! Konnten sie ihn für etwas geringers halten, als
für den Bacchus selbst? Jn dem Taumel worinn sich
ihre Sinnen befanden, war nichts natürlichers als
dieser Gedanke; auch gab er ihrer Phantasie auf
einmal einen so feurigen Schwung, daß, da sie
die Gestalt dieses Gottes vor sich sahen, sie alles
übrige hinzudichtete, was ihm zu einem vollständigen
Dionysus mangelte. Jhre bezauberten Augen stellten
ihnen die Silenen und die Ziegenfüßigen Faunen vor,
die um ihn her schwärmten, und Tyger und Leopar-
den die mit liebkosender Zunge seine Füsse lekten; Blu-
men, so däucht es sie, entsprangen unter seinen Fuß-
solen, und Quellen von Wein und Honig sprudelten
von jedem seiner Tritte auf, und rannen in schäumen-
den Bächen die Felsen hinab. Auf einmal erschallte der
ganze Berg, der Wald und die benachbarten Felsen von
ihrem lauten Evan, Evan! mit einem so entsezlichen
Getöse der Trummeln und Klapperbleche, daß Agathon,
bey dem das, was er in diesem Augenblik sah und
hörte, alles überstieg, was er jemals gesehen, gehört,
gedichtet oder geträumt hatte, von Entsetzen und Er-
staunung gefesselt, wie eine Bildsäule stehen blieb, in-
deß, daß die entzükten Bacchantinnen gaukelnde Tän-
ze um ihn her machten, und durch tausend unsinnige
Gebehrden ihre Freude über die vermeynte Gegenwart
ihres Gottes ausdrükten.

Allein
A 5

Erſtes Buch, zweytes Capitel.
Maͤnaden in Erſtaunen. Ein Juͤngling von einer ſol-
chen Geſtalt, an einem ſolchen Ort, zu einer ſolchen
Zeit! Konnten ſie ihn fuͤr etwas geringers halten, als
fuͤr den Bacchus ſelbſt? Jn dem Taumel worinn ſich
ihre Sinnen befanden, war nichts natuͤrlichers als
dieſer Gedanke; auch gab er ihrer Phantaſie auf
einmal einen ſo feurigen Schwung, daß, da ſie
die Geſtalt dieſes Gottes vor ſich ſahen, ſie alles
uͤbrige hinzudichtete, was ihm zu einem vollſtaͤndigen
Dionyſus mangelte. Jhre bezauberten Augen ſtellten
ihnen die Silenen und die Ziegenfuͤßigen Faunen vor,
die um ihn her ſchwaͤrmten, und Tyger und Leopar-
den die mit liebkoſender Zunge ſeine Fuͤſſe lekten; Blu-
men, ſo daͤucht es ſie, entſprangen unter ſeinen Fuß-
ſolen, und Quellen von Wein und Honig ſprudelten
von jedem ſeiner Tritte auf, und rannen in ſchaͤumen-
den Baͤchen die Felſen hinab. Auf einmal erſchallte der
ganze Berg, der Wald und die benachbarten Felſen von
ihrem lauten Evan, Evan! mit einem ſo entſezlichen
Getoͤſe der Trummeln und Klapperbleche, daß Agathon,
bey dem das, was er in dieſem Augenblik ſah und
hoͤrte, alles uͤberſtieg, was er jemals geſehen, gehoͤrt,
gedichtet oder getraͤumt hatte, von Entſetzen und Er-
ſtaunung gefeſſelt, wie eine Bildſaͤule ſtehen blieb, in-
deß, daß die entzuͤkten Bacchantinnen gaukelnde Taͤn-
ze um ihn her machten, und durch tauſend unſinnige
Gebehrden ihre Freude uͤber die vermeynte Gegenwart
ihres Gottes ausdruͤkten.

Allein
A 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0031" n="9"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Buch, zweytes Capitel.</hi></fw><lb/>
Ma&#x0364;naden in Er&#x017F;taunen. Ein Ju&#x0364;ngling von einer &#x017F;ol-<lb/>
chen Ge&#x017F;talt, an einem &#x017F;olchen Ort, zu einer &#x017F;olchen<lb/>
Zeit! Konnten &#x017F;ie ihn fu&#x0364;r etwas geringers halten, als<lb/>
fu&#x0364;r den Bacchus &#x017F;elb&#x017F;t? Jn dem Taumel worinn &#x017F;ich<lb/>
ihre Sinnen befanden, war nichts natu&#x0364;rlichers als<lb/>
die&#x017F;er Gedanke; auch gab er ihrer Phanta&#x017F;ie auf<lb/>
einmal einen &#x017F;o feurigen Schwung, daß, da &#x017F;ie<lb/>
die Ge&#x017F;talt die&#x017F;es Gottes vor &#x017F;ich &#x017F;ahen, &#x017F;ie alles<lb/>
u&#x0364;brige hinzudichtete, was ihm zu einem voll&#x017F;ta&#x0364;ndigen<lb/>
Diony&#x017F;us mangelte. Jhre bezauberten Augen &#x017F;tellten<lb/>
ihnen die Silenen und die Ziegenfu&#x0364;ßigen Faunen vor,<lb/>
die um ihn her &#x017F;chwa&#x0364;rmten, und Tyger und Leopar-<lb/>
den die mit liebko&#x017F;ender Zunge &#x017F;eine Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e lekten; Blu-<lb/>
men, &#x017F;o da&#x0364;ucht es &#x017F;ie, ent&#x017F;prangen unter &#x017F;einen Fuß-<lb/>
&#x017F;olen, und Quellen von Wein und Honig &#x017F;prudelten<lb/>
von jedem &#x017F;einer Tritte auf, und rannen in &#x017F;cha&#x0364;umen-<lb/>
den Ba&#x0364;chen die Fel&#x017F;en hinab. Auf einmal er&#x017F;challte der<lb/>
ganze Berg, der Wald und die benachbarten Fel&#x017F;en von<lb/>
ihrem lauten Evan, Evan! mit einem &#x017F;o ent&#x017F;ezlichen<lb/>
Geto&#x0364;&#x017F;e der Trummeln und Klapperbleche, daß Agathon,<lb/>
bey dem das, was er in die&#x017F;em Augenblik &#x017F;ah und<lb/>
ho&#x0364;rte, alles u&#x0364;ber&#x017F;tieg, was er jemals ge&#x017F;ehen, geho&#x0364;rt,<lb/>
gedichtet oder getra&#x0364;umt hatte, von Ent&#x017F;etzen und Er-<lb/>
&#x017F;taunung gefe&#x017F;&#x017F;elt, wie eine Bild&#x017F;a&#x0364;ule &#x017F;tehen blieb, in-<lb/>
deß, daß die entzu&#x0364;kten Bacchantinnen gaukelnde Ta&#x0364;n-<lb/>
ze um ihn her machten, und durch tau&#x017F;end un&#x017F;innige<lb/>
Gebehrden ihre Freude u&#x0364;ber die vermeynte Gegenwart<lb/>
ihres Gottes ausdru&#x0364;kten.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">A 5</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">Allein</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0031] Erſtes Buch, zweytes Capitel. Maͤnaden in Erſtaunen. Ein Juͤngling von einer ſol- chen Geſtalt, an einem ſolchen Ort, zu einer ſolchen Zeit! Konnten ſie ihn fuͤr etwas geringers halten, als fuͤr den Bacchus ſelbſt? Jn dem Taumel worinn ſich ihre Sinnen befanden, war nichts natuͤrlichers als dieſer Gedanke; auch gab er ihrer Phantaſie auf einmal einen ſo feurigen Schwung, daß, da ſie die Geſtalt dieſes Gottes vor ſich ſahen, ſie alles uͤbrige hinzudichtete, was ihm zu einem vollſtaͤndigen Dionyſus mangelte. Jhre bezauberten Augen ſtellten ihnen die Silenen und die Ziegenfuͤßigen Faunen vor, die um ihn her ſchwaͤrmten, und Tyger und Leopar- den die mit liebkoſender Zunge ſeine Fuͤſſe lekten; Blu- men, ſo daͤucht es ſie, entſprangen unter ſeinen Fuß- ſolen, und Quellen von Wein und Honig ſprudelten von jedem ſeiner Tritte auf, und rannen in ſchaͤumen- den Baͤchen die Felſen hinab. Auf einmal erſchallte der ganze Berg, der Wald und die benachbarten Felſen von ihrem lauten Evan, Evan! mit einem ſo entſezlichen Getoͤſe der Trummeln und Klapperbleche, daß Agathon, bey dem das, was er in dieſem Augenblik ſah und hoͤrte, alles uͤberſtieg, was er jemals geſehen, gehoͤrt, gedichtet oder getraͤumt hatte, von Entſetzen und Er- ſtaunung gefeſſelt, wie eine Bildſaͤule ſtehen blieb, in- deß, daß die entzuͤkten Bacchantinnen gaukelnde Taͤn- ze um ihn her machten, und durch tauſend unſinnige Gebehrden ihre Freude uͤber die vermeynte Gegenwart ihres Gottes ausdruͤkten. Allein A 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/31
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/31>, abgerufen am 21.11.2024.