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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, drittes Capitel.
Perlen reich gestikten Ruhe-Bette; ihr ganzer Puz hatte
dieses Zierlich-Nachlässige, hinter welches die Kunst sich
auf eine schlaue Art verstekt, wenn sie nicht dafür ange-
sehen seyn will, daß sie der Natur zu Hülfe komme; ihr
Gewand, dessen bescheidene Farbe ihrer eigenen eben
so sehr als der Anständigkeit ihrer Würde angemessen
war, wallte zwar in vielen Falten um sie her; aber es
war schon dafür gesorgt, daß hier und da der schöne
Contour dessen, was damit bedekt war, deutlich genug
wurde, um die Augen auf sich zu ziehen, und die Neu-
gier lüstern zu machen. Jhre Arme, die sie sehr schön
hatte, waren in weiten und halb aufgeschürzten Ermeln
fast ganz zu sehen; und eine Bewegung, welche sie,
während unsers Gesprächs, unwissender Weise gemacht
haben wollte, trieb einen Busen aus seiner Verhül-
lung hervor, welcher reizend genug war, ihr Gesicht
um zwanzig Jahre jünger zu machen. Sie bemerkte
diese kleine Unregelmässigkeit endlich; aber das Mittel,
wodurch sie die Sachen wieder in Ordnung zu bringen
suchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß
dadurch ein Fuß bis zur Hälfte sichtbar wurde, dessen
die schönste Spartanerin sich hätte rühmen dürfen. Die
tiefe Gleichgültigkeit, worinn mich alle diese Reizungen
liessen, machte ohne Zweifel, daß ich Beobachtungen
machen konnte, wozu ein gerührter Zuschauer die Frey-
heit nicht gehabt hätte. Jndeß gab mir doch eine Art
von Schaam, die ich anstatt der guten Pythia auf mei-
nen Wangen glühen fühlte, ein Ansehen von Verwir-
rung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Fäl-

len

Siebentes Buch, drittes Capitel.
Perlen reich geſtikten Ruhe-Bette; ihr ganzer Puz hatte
dieſes Zierlich-Nachlaͤſſige, hinter welches die Kunſt ſich
auf eine ſchlaue Art verſtekt, wenn ſie nicht dafuͤr ange-
ſehen ſeyn will, daß ſie der Natur zu Huͤlfe komme; ihr
Gewand, deſſen beſcheidene Farbe ihrer eigenen eben
ſo ſehr als der Anſtaͤndigkeit ihrer Wuͤrde angemeſſen
war, wallte zwar in vielen Falten um ſie her; aber es
war ſchon dafuͤr geſorgt, daß hier und da der ſchoͤne
Contour deſſen, was damit bedekt war, deutlich genug
wurde, um die Augen auf ſich zu ziehen, und die Neu-
gier luͤſtern zu machen. Jhre Arme, die ſie ſehr ſchoͤn
hatte, waren in weiten und halb aufgeſchuͤrzten Ermeln
faſt ganz zu ſehen; und eine Bewegung, welche ſie,
waͤhrend unſers Geſpraͤchs, unwiſſender Weiſe gemacht
haben wollte, trieb einen Buſen aus ſeiner Verhuͤl-
lung hervor, welcher reizend genug war, ihr Geſicht
um zwanzig Jahre juͤnger zu machen. Sie bemerkte
dieſe kleine Unregelmaͤſſigkeit endlich; aber das Mittel,
wodurch ſie die Sachen wieder in Ordnung zu bringen
ſuchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß
dadurch ein Fuß bis zur Haͤlfte ſichtbar wurde, deſſen
die ſchoͤnſte Spartanerin ſich haͤtte ruͤhmen duͤrfen. Die
tiefe Gleichguͤltigkeit, worinn mich alle dieſe Reizungen
lieſſen, machte ohne Zweifel, daß ich Beobachtungen
machen konnte, wozu ein geruͤhrter Zuſchauer die Frey-
heit nicht gehabt haͤtte. Jndeß gab mir doch eine Art
von Schaam, die ich anſtatt der guten Pythia auf mei-
nen Wangen gluͤhen fuͤhlte, ein Anſehen von Verwir-
rung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Faͤl-

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[287/0309] Siebentes Buch, drittes Capitel. Perlen reich geſtikten Ruhe-Bette; ihr ganzer Puz hatte dieſes Zierlich-Nachlaͤſſige, hinter welches die Kunſt ſich auf eine ſchlaue Art verſtekt, wenn ſie nicht dafuͤr ange- ſehen ſeyn will, daß ſie der Natur zu Huͤlfe komme; ihr Gewand, deſſen beſcheidene Farbe ihrer eigenen eben ſo ſehr als der Anſtaͤndigkeit ihrer Wuͤrde angemeſſen war, wallte zwar in vielen Falten um ſie her; aber es war ſchon dafuͤr geſorgt, daß hier und da der ſchoͤne Contour deſſen, was damit bedekt war, deutlich genug wurde, um die Augen auf ſich zu ziehen, und die Neu- gier luͤſtern zu machen. Jhre Arme, die ſie ſehr ſchoͤn hatte, waren in weiten und halb aufgeſchuͤrzten Ermeln faſt ganz zu ſehen; und eine Bewegung, welche ſie, waͤhrend unſers Geſpraͤchs, unwiſſender Weiſe gemacht haben wollte, trieb einen Buſen aus ſeiner Verhuͤl- lung hervor, welcher reizend genug war, ihr Geſicht um zwanzig Jahre juͤnger zu machen. Sie bemerkte dieſe kleine Unregelmaͤſſigkeit endlich; aber das Mittel, wodurch ſie die Sachen wieder in Ordnung zu bringen ſuchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß dadurch ein Fuß bis zur Haͤlfte ſichtbar wurde, deſſen die ſchoͤnſte Spartanerin ſich haͤtte ruͤhmen duͤrfen. Die tiefe Gleichguͤltigkeit, worinn mich alle dieſe Reizungen lieſſen, machte ohne Zweifel, daß ich Beobachtungen machen konnte, wozu ein geruͤhrter Zuſchauer die Frey- heit nicht gehabt haͤtte. Jndeß gab mir doch eine Art von Schaam, die ich anſtatt der guten Pythia auf mei- nen Wangen gluͤhen fuͤhlte, ein Anſehen von Verwir- rung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Faͤl- len

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/309>, abgerufen am 28.09.2024.