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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, drittes Capitel.
dazu konnte sie sich ohne übertriebene Eitelkeit für rei-
zend genug halten. Sie war zu den Zeiten des Hei-
ligen Kriegs in der Blühte ihrer Schönheit gewesen;
hatte sich aber, wie die meisten ihres Standes, so gut
erhalten, daß sie noch immer Hoffnung haben konnte,
in einer Versammlung herbstlicher Schönheiten vorzüg-
lich bemerkt zu werden. Seze zu diesen ehrwürdigen
Ueberbleibseln einer vormals berühmten Schönheit eine
Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt,
grosse schwarze Augen, unter deren affectiertem Ernst
eine wollüstige Glut hervorglimmte, und zu allem die-
sem eine ungemeine Sorgfalt für ihre Person, und die
schlaue Kunst, die Vortheile ihrer Reizungen mit der
strengen Sittsamkeit ihrer priesterlichen Kleidung zu
verbinden: so kanst du dir eine genugsame Vorstellung
von dieser Pythia machen, um den Grad der Gefahr
abnehmen zu können, worinn sich die Einfalt meiner
Jugend bey ihren Nachstellungen befand.

Es ist leicht zu erachten, wie viel es sie Mühe kosten
mußte, die ersten Schwierigkeiten zu überwinden, wel-
che ein mehr Ehrfurcht als Liebe einflössendes Frauenzim-
mer, in den hartnäkigen Vorurtheilen eines achtzehnjäh-
rigen Jünglings findet. Jhr Stand erlaubte ihr nicht,
sich deutlich zu erklären; und meine Blödigkeit verstand
die Sprache nicht, deren sie sich zu bedienen genöthigt
war. Zwar braucht man sonst zu dieser Sprache keinen
andern Lehrmeister als sein Herz; allein unglüklicher
Weise sagte mir mein Herz nichts. Es bedurfte der

lange
S 4

Siebentes Buch, drittes Capitel.
dazu konnte ſie ſich ohne uͤbertriebene Eitelkeit fuͤr rei-
zend genug halten. Sie war zu den Zeiten des Hei-
ligen Kriegs in der Bluͤhte ihrer Schoͤnheit geweſen;
hatte ſich aber, wie die meiſten ihres Standes, ſo gut
erhalten, daß ſie noch immer Hoffnung haben konnte,
in einer Verſammlung herbſtlicher Schoͤnheiten vorzuͤg-
lich bemerkt zu werden. Seze zu dieſen ehrwuͤrdigen
Ueberbleibſeln einer vormals beruͤhmten Schoͤnheit eine
Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt,
groſſe ſchwarze Augen, unter deren affectiertem Ernſt
eine wolluͤſtige Glut hervorglimmte, und zu allem die-
ſem eine ungemeine Sorgfalt fuͤr ihre Perſon, und die
ſchlaue Kunſt, die Vortheile ihrer Reizungen mit der
ſtrengen Sittſamkeit ihrer prieſterlichen Kleidung zu
verbinden: ſo kanſt du dir eine genugſame Vorſtellung
von dieſer Pythia machen, um den Grad der Gefahr
abnehmen zu koͤnnen, worinn ſich die Einfalt meiner
Jugend bey ihren Nachſtellungen befand.

Es iſt leicht zu erachten, wie viel es ſie Muͤhe koſten
mußte, die erſten Schwierigkeiten zu uͤberwinden, wel-
che ein mehr Ehrfurcht als Liebe einfloͤſſendes Frauenzim-
mer, in den hartnaͤkigen Vorurtheilen eines achtzehnjaͤh-
rigen Juͤnglings findet. Jhr Stand erlaubte ihr nicht,
ſich deutlich zu erklaͤren; und meine Bloͤdigkeit verſtand
die Sprache nicht, deren ſie ſich zu bedienen genoͤthigt
war. Zwar braucht man ſonſt zu dieſer Sprache keinen
andern Lehrmeiſter als ſein Herz; allein ungluͤklicher
Weiſe ſagte mir mein Herz nichts. Es bedurfte der

lange
S 4
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[279/0301] Siebentes Buch, drittes Capitel. dazu konnte ſie ſich ohne uͤbertriebene Eitelkeit fuͤr rei- zend genug halten. Sie war zu den Zeiten des Hei- ligen Kriegs in der Bluͤhte ihrer Schoͤnheit geweſen; hatte ſich aber, wie die meiſten ihres Standes, ſo gut erhalten, daß ſie noch immer Hoffnung haben konnte, in einer Verſammlung herbſtlicher Schoͤnheiten vorzuͤg- lich bemerkt zu werden. Seze zu dieſen ehrwuͤrdigen Ueberbleibſeln einer vormals beruͤhmten Schoͤnheit eine Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt, groſſe ſchwarze Augen, unter deren affectiertem Ernſt eine wolluͤſtige Glut hervorglimmte, und zu allem die- ſem eine ungemeine Sorgfalt fuͤr ihre Perſon, und die ſchlaue Kunſt, die Vortheile ihrer Reizungen mit der ſtrengen Sittſamkeit ihrer prieſterlichen Kleidung zu verbinden: ſo kanſt du dir eine genugſame Vorſtellung von dieſer Pythia machen, um den Grad der Gefahr abnehmen zu koͤnnen, worinn ſich die Einfalt meiner Jugend bey ihren Nachſtellungen befand. Es iſt leicht zu erachten, wie viel es ſie Muͤhe koſten mußte, die erſten Schwierigkeiten zu uͤberwinden, wel- che ein mehr Ehrfurcht als Liebe einfloͤſſendes Frauenzim- mer, in den hartnaͤkigen Vorurtheilen eines achtzehnjaͤh- rigen Juͤnglings findet. Jhr Stand erlaubte ihr nicht, ſich deutlich zu erklaͤren; und meine Bloͤdigkeit verſtand die Sprache nicht, deren ſie ſich zu bedienen genoͤthigt war. Zwar braucht man ſonſt zu dieſer Sprache keinen andern Lehrmeiſter als ſein Herz; allein ungluͤklicher Weiſe ſagte mir mein Herz nichts. Es bedurfte der lange S 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/301>, abgerufen am 24.11.2024.