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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
Wollust durchströmt, konnte sie oder wollte sie viel-
mehr den Gedanken nicht ertragen, daß sie in einem so
beneidenswürdigen Zustand unter sich selbst herunterge-
sunken seyn könne. Göttliche Danae, rief der arme
Kranke in einem verdoppelten Anstoß des wiederkeh-
renden Taumels aus; wie? Kan es ein Verbrechen
seyn, das Vollkommenste unter allen Geschöpfen zu
lieben? Jst es ein Verbrechen glüklich zu seyn? --
Jn diesem Ton fuhr Amor, (welchen Plato sehr rich-
tig den grösten unter allen Sophisten nennt) desto un-
gehinderter fort ihm zuzureden, da ihm die Eigenliebe
zu Hilfe kam, und seine Sache zu der ihrigen machte.
Denn was ist unangenehmers, als sich selbst zugleich an-
klagen und verurtheilen müssen? Und wie gerne hören
wir die Stimme der sich selbst vertheidigenden Leiden-
schaft? Wie gründlich finden wir jedes Blendwerk,
womit sie die richterliche Vernunft zu einem falschen
Ausspruch zu verleiten sucht? Agathon hörte diese be-
triegliche Apologistin so gerne, daß es ihr gelang,
sein Gemüthe wieder zu besänftigen. Er schmeichelte
sich, daß ungeachtet einer Veränderung seiner Denkungs-
art, die er sich selbst für eine Verbesserung zu geben
suchte, der Unterscheid zwischen ihm und Hippias noch
so groß, so wesentlich sey als jemals. Er ver-
barg seine schwache Seite hinter die Tugenden, deren
er sich bewußt zu seyn glaubte; und beruhigte sich end.
lich völlig mit einem idealischen Entwurf eines seinen
eignen Grundsäzen gemässen Lebens, zu welchem er
seine geliebte Danae schon genug vorbereitet glaubte,

um

Agathon.
Wolluſt durchſtroͤmt, konnte ſie oder wollte ſie viel-
mehr den Gedanken nicht ertragen, daß ſie in einem ſo
beneidenswuͤrdigen Zuſtand unter ſich ſelbſt herunterge-
ſunken ſeyn koͤnne. Goͤttliche Danae, rief der arme
Kranke in einem verdoppelten Anſtoß des wiederkeh-
renden Taumels aus; wie? Kan es ein Verbrechen
ſeyn, das Vollkommenſte unter allen Geſchoͤpfen zu
lieben? Jſt es ein Verbrechen gluͤklich zu ſeyn? —
Jn dieſem Ton fuhr Amor, (welchen Plato ſehr rich-
tig den groͤſten unter allen Sophiſten nennt) deſto un-
gehinderter fort ihm zuzureden, da ihm die Eigenliebe
zu Hilfe kam, und ſeine Sache zu der ihrigen machte.
Denn was iſt unangenehmers, als ſich ſelbſt zugleich an-
klagen und verurtheilen muͤſſen? Und wie gerne hoͤren
wir die Stimme der ſich ſelbſt vertheidigenden Leiden-
ſchaft? Wie gruͤndlich finden wir jedes Blendwerk,
womit ſie die richterliche Vernunft zu einem falſchen
Ausſpruch zu verleiten ſucht? Agathon hoͤrte dieſe be-
triegliche Apologiſtin ſo gerne, daß es ihr gelang,
ſein Gemuͤthe wieder zu beſaͤnftigen. Er ſchmeichelte
ſich, daß ungeachtet einer Veraͤnderung ſeiner Denkungs-
art, die er ſich ſelbſt fuͤr eine Verbeſſerung zu geben
ſuchte, der Unterſcheid zwiſchen ihm und Hippias noch
ſo groß, ſo weſentlich ſey als jemals. Er ver-
barg ſeine ſchwache Seite hinter die Tugenden, deren
er ſich bewußt zu ſeyn glaubte; und beruhigte ſich end.
lich voͤllig mit einem idealiſchen Entwurf eines ſeinen
eignen Grundſaͤzen gemaͤſſen Lebens, zu welchem er
ſeine geliebte Danae ſchon genug vorbereitet glaubte,

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[238/0260] Agathon. Wolluſt durchſtroͤmt, konnte ſie oder wollte ſie viel- mehr den Gedanken nicht ertragen, daß ſie in einem ſo beneidenswuͤrdigen Zuſtand unter ſich ſelbſt herunterge- ſunken ſeyn koͤnne. Goͤttliche Danae, rief der arme Kranke in einem verdoppelten Anſtoß des wiederkeh- renden Taumels aus; wie? Kan es ein Verbrechen ſeyn, das Vollkommenſte unter allen Geſchoͤpfen zu lieben? Jſt es ein Verbrechen gluͤklich zu ſeyn? — Jn dieſem Ton fuhr Amor, (welchen Plato ſehr rich- tig den groͤſten unter allen Sophiſten nennt) deſto un- gehinderter fort ihm zuzureden, da ihm die Eigenliebe zu Hilfe kam, und ſeine Sache zu der ihrigen machte. Denn was iſt unangenehmers, als ſich ſelbſt zugleich an- klagen und verurtheilen muͤſſen? Und wie gerne hoͤren wir die Stimme der ſich ſelbſt vertheidigenden Leiden- ſchaft? Wie gruͤndlich finden wir jedes Blendwerk, womit ſie die richterliche Vernunft zu einem falſchen Ausſpruch zu verleiten ſucht? Agathon hoͤrte dieſe be- triegliche Apologiſtin ſo gerne, daß es ihr gelang, ſein Gemuͤthe wieder zu beſaͤnftigen. Er ſchmeichelte ſich, daß ungeachtet einer Veraͤnderung ſeiner Denkungs- art, die er ſich ſelbſt fuͤr eine Verbeſſerung zu geben ſuchte, der Unterſcheid zwiſchen ihm und Hippias noch ſo groß, ſo weſentlich ſey als jemals. Er ver- barg ſeine ſchwache Seite hinter die Tugenden, deren er ſich bewußt zu ſeyn glaubte; und beruhigte ſich end. lich voͤllig mit einem idealiſchen Entwurf eines ſeinen eignen Grundſaͤzen gemaͤſſen Lebens, zu welchem er ſeine geliebte Danae ſchon genug vorbereitet glaubte, um

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/260>, abgerufen am 02.05.2024.