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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Sechstes Buch, zweytes Capitel.
wußte es so zu lenken, daß Agathon unvermerkt veran-
laßt wurde, die neue Wendung, welche seine Einbil-
dungskraft bekommen hatte, auf hundertfältige Art zu
verrathen. Jnzwischen neigte sich die Sonne, als sie
beym Eintritt in einen kleinen Wald von Myrthen- und
Citronenbäumen, an welchen die Kunst keine Hand ange-
legt zu haben schien, von einem verstekten Concert,
welches alle Arten von Singvögel nachahmte, empfan-
gen wurden. Aus jedem Zweig, aus jedem Blatte schien
eine besondere Stimme hervorzugehen; so volltönig war
diese Musik, in welcher die Nachahmung der kunstlo-
sen Natur in der scheinbaren Unregelmäßigkeit phanta-
sierender Töne, die lieblichste Harmonie hervorbrachte,
die man jemals gehört hatte. Die Dämmerung des
heitersten Abends, und die eigne Anmuth des Orts ver-
einigten sich damit, um diesem Lusthayn die Gestalt der
Bezauberung zu geben. Danae, welche seit wenigen
Wochen eine ganz neue Empfindlichkeit für das Schöne
der Natur und die Vergnügungen der Einbildungskraft
bekommen hatte, sahe ihren sich ganz unwissend stellen-
den Liebling mit Augen an, welche ihm sagten, daß
nur die Gegenwart des Hippias sie verhindere, ihre
schönen Arme um seinen Hals zu werfen: als unverse-
hens eine Anzahl von kleinen Liebesgöttern und Fau-
nen aus dem Hayn hervorhüpfte; jene von flatterndem
Silberflor, der mit nachgeahmten Rosen durchwürkt
war, leicht bedekt; diese nakend, ausser daß ein Epheu-
kranz, mit gelben Rosen durchflochten, ihre milchweissen
Hüften schürzten, und um die kleinen verguldeten Hör-

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Sechstes Buch, zweytes Capitel.
wußte es ſo zu lenken, daß Agathon unvermerkt veran-
laßt wurde, die neue Wendung, welche ſeine Einbil-
dungskraft bekommen hatte, auf hundertfaͤltige Art zu
verrathen. Jnzwiſchen neigte ſich die Sonne, als ſie
beym Eintritt in einen kleinen Wald von Myrthen- und
Citronenbaͤumen, an welchen die Kunſt keine Hand ange-
legt zu haben ſchien, von einem verſtekten Concert,
welches alle Arten von Singvoͤgel nachahmte, empfan-
gen wurden. Aus jedem Zweig, aus jedem Blatte ſchien
eine beſondere Stimme hervorzugehen; ſo volltoͤnig war
dieſe Muſik, in welcher die Nachahmung der kunſtlo-
ſen Natur in der ſcheinbaren Unregelmaͤßigkeit phanta-
ſierender Toͤne, die lieblichſte Harmonie hervorbrachte,
die man jemals gehoͤrt hatte. Die Daͤmmerung des
heiterſten Abends, und die eigne Anmuth des Orts ver-
einigten ſich damit, um dieſem Luſthayn die Geſtalt der
Bezauberung zu geben. Danae, welche ſeit wenigen
Wochen eine ganz neue Empfindlichkeit fuͤr das Schoͤne
der Natur und die Vergnuͤgungen der Einbildungskraft
bekommen hatte, ſahe ihren ſich ganz unwiſſend ſtellen-
den Liebling mit Augen an, welche ihm ſagten, daß
nur die Gegenwart des Hippias ſie verhindere, ihre
ſchoͤnen Arme um ſeinen Hals zu werfen: als unverſe-
hens eine Anzahl von kleinen Liebesgoͤttern und Fau-
nen aus dem Hayn hervorhuͤpfte; jene von flatterndem
Silberflor, der mit nachgeahmten Roſen durchwuͤrkt
war, leicht bedekt; dieſe nakend, auſſer daß ein Epheu-
kranz, mit gelben Roſen durchflochten, ihre milchweiſſen
Huͤften ſchuͤrzten, und um die kleinen verguldeten Hoͤr-

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[229/0251] Sechstes Buch, zweytes Capitel. wußte es ſo zu lenken, daß Agathon unvermerkt veran- laßt wurde, die neue Wendung, welche ſeine Einbil- dungskraft bekommen hatte, auf hundertfaͤltige Art zu verrathen. Jnzwiſchen neigte ſich die Sonne, als ſie beym Eintritt in einen kleinen Wald von Myrthen- und Citronenbaͤumen, an welchen die Kunſt keine Hand ange- legt zu haben ſchien, von einem verſtekten Concert, welches alle Arten von Singvoͤgel nachahmte, empfan- gen wurden. Aus jedem Zweig, aus jedem Blatte ſchien eine beſondere Stimme hervorzugehen; ſo volltoͤnig war dieſe Muſik, in welcher die Nachahmung der kunſtlo- ſen Natur in der ſcheinbaren Unregelmaͤßigkeit phanta- ſierender Toͤne, die lieblichſte Harmonie hervorbrachte, die man jemals gehoͤrt hatte. Die Daͤmmerung des heiterſten Abends, und die eigne Anmuth des Orts ver- einigten ſich damit, um dieſem Luſthayn die Geſtalt der Bezauberung zu geben. Danae, welche ſeit wenigen Wochen eine ganz neue Empfindlichkeit fuͤr das Schoͤne der Natur und die Vergnuͤgungen der Einbildungskraft bekommen hatte, ſahe ihren ſich ganz unwiſſend ſtellen- den Liebling mit Augen an, welche ihm ſagten, daß nur die Gegenwart des Hippias ſie verhindere, ihre ſchoͤnen Arme um ſeinen Hals zu werfen: als unverſe- hens eine Anzahl von kleinen Liebesgoͤttern und Fau- nen aus dem Hayn hervorhuͤpfte; jene von flatterndem Silberflor, der mit nachgeahmten Roſen durchwuͤrkt war, leicht bedekt; dieſe nakend, auſſer daß ein Epheu- kranz, mit gelben Roſen durchflochten, ihre milchweiſſen Huͤften ſchuͤrzten, und um die kleinen verguldeten Hoͤr- ner P 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/251>, abgerufen am 02.05.2024.