Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechstes Buch, erstes Capitel.
wandlung, welche sie erlitten hatten; die Furcht vor
dem comischen Ansehen, welches sie ihnen in den Augen
des Sophisten geben möchte; die Furcht von einem
Spott, vor dem sie die muthwilligen Ergiessungen bey
jedem Blike, bey jedem Lächeln erwarteten; dieses war
es, was sie in Verlegenheit sezte, und was den artig-
sten Gesichtern in ganz Jonien etwas Verdrießliches
gab, welches von einem jeden andern als Hippias für
ein Zeichen, daß seine Gegenwart unangenehm sey,
hätte aufgenommen werden müssen. Allein dieser nahm
es für das auf, was es in der That war; und da nie-
mand besser zu leben wußte, so schien er so wenig zu
bemerken, was in ihnen vorgieng, machte den Unacht-
samen und Sorglosen so natürlich, hatte so viel von
seiner Reise und tausend gleichgültigen Dingen zu schwa-
zen, und wußte dem Gespräch einen so freyen Schwung
von Munterkeit zu geben, daß sie alle erforderliche Zeit
gewannen, sich wieder zu erholen, und sich in eine un-
gezwungene Verfassung zu sezen. Wenn Agathon hie-
durch so sehr beruhiget wurde, daß er würklich hofte,
sich in seinen ersten Besorgnissen betrogen zu haben, so
war die feinere Danae weit davon entfernt, sich durch
die Kunstgriffe des Sophisten ein Blendwerk vormachen
zu lassen. Sie kannte ihn zu guk, um nicht in seiner
Seele zu lesen; sie sah wohl, daß es zu einer Erörte-
rung mit ihm kommen müsse, und war nur darüber
unruhig, wie sie sich entschuldigen wollte, daß sie, über
der Bemühung den Charakter des Agathons umzubilden,
ihren eignen oder doch einen guten Theil davon verloh-

ren

Sechstes Buch, erſtes Capitel.
wandlung, welche ſie erlitten hatten; die Furcht vor
dem comiſchen Anſehen, welches ſie ihnen in den Augen
des Sophiſten geben moͤchte; die Furcht von einem
Spott, vor dem ſie die muthwilligen Ergieſſungen bey
jedem Blike, bey jedem Laͤcheln erwarteten; dieſes war
es, was ſie in Verlegenheit ſezte, und was den artig-
ſten Geſichtern in ganz Jonien etwas Verdrießliches
gab, welches von einem jeden andern als Hippias fuͤr
ein Zeichen, daß ſeine Gegenwart unangenehm ſey,
haͤtte aufgenommen werden muͤſſen. Allein dieſer nahm
es fuͤr das auf, was es in der That war; und da nie-
mand beſſer zu leben wußte, ſo ſchien er ſo wenig zu
bemerken, was in ihnen vorgieng, machte den Unacht-
ſamen und Sorgloſen ſo natuͤrlich, hatte ſo viel von
ſeiner Reiſe und tauſend gleichguͤltigen Dingen zu ſchwa-
zen, und wußte dem Geſpraͤch einen ſo freyen Schwung
von Munterkeit zu geben, daß ſie alle erforderliche Zeit
gewannen, ſich wieder zu erholen, und ſich in eine un-
gezwungene Verfaſſung zu ſezen. Wenn Agathon hie-
durch ſo ſehr beruhiget wurde, daß er wuͤrklich hofte,
ſich in ſeinen erſten Beſorgniſſen betrogen zu haben, ſo
war die feinere Danae weit davon entfernt, ſich durch
die Kunſtgriffe des Sophiſten ein Blendwerk vormachen
zu laſſen. Sie kannte ihn zu guk, um nicht in ſeiner
Seele zu leſen; ſie ſah wohl, daß es zu einer Eroͤrte-
rung mit ihm kommen muͤſſe, und war nur daruͤber
unruhig, wie ſie ſich entſchuldigen wollte, daß ſie, uͤber
der Bemuͤhung den Charakter des Agathons umzubilden,
ihren eignen oder doch einen guten Theil davon verloh-

ren
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0245" n="223"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Sechstes Buch, er&#x017F;tes Capitel.</hi></fw><lb/>
wandlung, welche &#x017F;ie erlitten hatten; die Furcht vor<lb/>
dem comi&#x017F;chen An&#x017F;ehen, welches &#x017F;ie ihnen in den Augen<lb/>
des Sophi&#x017F;ten geben mo&#x0364;chte; die Furcht von einem<lb/>
Spott, vor dem &#x017F;ie die muthwilligen Ergie&#x017F;&#x017F;ungen bey<lb/>
jedem Blike, bey jedem La&#x0364;cheln erwarteten; die&#x017F;es war<lb/>
es, was &#x017F;ie in Verlegenheit &#x017F;ezte, und was den artig-<lb/>
&#x017F;ten Ge&#x017F;ichtern in ganz Jonien etwas Verdrießliches<lb/>
gab, welches von einem jeden andern als Hippias fu&#x0364;r<lb/>
ein Zeichen, daß &#x017F;eine Gegenwart unangenehm &#x017F;ey,<lb/>
ha&#x0364;tte aufgenommen werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Allein die&#x017F;er nahm<lb/>
es fu&#x0364;r das auf, was es in der That war; und da nie-<lb/>
mand be&#x017F;&#x017F;er zu leben wußte, &#x017F;o &#x017F;chien er &#x017F;o wenig zu<lb/>
bemerken, was in ihnen vorgieng, machte den Unacht-<lb/>
&#x017F;amen und Sorglo&#x017F;en &#x017F;o natu&#x0364;rlich, hatte &#x017F;o viel von<lb/>
&#x017F;einer Rei&#x017F;e und tau&#x017F;end gleichgu&#x0364;ltigen Dingen zu &#x017F;chwa-<lb/>
zen, und wußte dem Ge&#x017F;pra&#x0364;ch einen &#x017F;o freyen Schwung<lb/>
von Munterkeit zu geben, daß &#x017F;ie alle erforderliche Zeit<lb/>
gewannen, &#x017F;ich wieder zu erholen, und &#x017F;ich in eine un-<lb/>
gezwungene Verfa&#x017F;&#x017F;ung zu &#x017F;ezen. Wenn Agathon hie-<lb/>
durch &#x017F;o &#x017F;ehr beruhiget wurde, daß er wu&#x0364;rklich hofte,<lb/>
&#x017F;ich in &#x017F;einen er&#x017F;ten Be&#x017F;orgni&#x017F;&#x017F;en betrogen zu haben, &#x017F;o<lb/>
war die feinere Danae weit davon entfernt, &#x017F;ich durch<lb/>
die Kun&#x017F;tgriffe des Sophi&#x017F;ten ein Blendwerk vormachen<lb/>
zu la&#x017F;&#x017F;en. Sie kannte ihn zu guk, um nicht in &#x017F;einer<lb/>
Seele zu le&#x017F;en; &#x017F;ie &#x017F;ah wohl, daß es zu einer Ero&#x0364;rte-<lb/>
rung mit ihm kommen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, und war nur daru&#x0364;ber<lb/>
unruhig, wie &#x017F;ie &#x017F;ich ent&#x017F;chuldigen wollte, daß &#x017F;ie, u&#x0364;ber<lb/>
der Bemu&#x0364;hung den Charakter des Agathons umzubilden,<lb/>
ihren eignen oder doch einen guten Theil davon verloh-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ren</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0245] Sechstes Buch, erſtes Capitel. wandlung, welche ſie erlitten hatten; die Furcht vor dem comiſchen Anſehen, welches ſie ihnen in den Augen des Sophiſten geben moͤchte; die Furcht von einem Spott, vor dem ſie die muthwilligen Ergieſſungen bey jedem Blike, bey jedem Laͤcheln erwarteten; dieſes war es, was ſie in Verlegenheit ſezte, und was den artig- ſten Geſichtern in ganz Jonien etwas Verdrießliches gab, welches von einem jeden andern als Hippias fuͤr ein Zeichen, daß ſeine Gegenwart unangenehm ſey, haͤtte aufgenommen werden muͤſſen. Allein dieſer nahm es fuͤr das auf, was es in der That war; und da nie- mand beſſer zu leben wußte, ſo ſchien er ſo wenig zu bemerken, was in ihnen vorgieng, machte den Unacht- ſamen und Sorgloſen ſo natuͤrlich, hatte ſo viel von ſeiner Reiſe und tauſend gleichguͤltigen Dingen zu ſchwa- zen, und wußte dem Geſpraͤch einen ſo freyen Schwung von Munterkeit zu geben, daß ſie alle erforderliche Zeit gewannen, ſich wieder zu erholen, und ſich in eine un- gezwungene Verfaſſung zu ſezen. Wenn Agathon hie- durch ſo ſehr beruhiget wurde, daß er wuͤrklich hofte, ſich in ſeinen erſten Beſorgniſſen betrogen zu haben, ſo war die feinere Danae weit davon entfernt, ſich durch die Kunſtgriffe des Sophiſten ein Blendwerk vormachen zu laſſen. Sie kannte ihn zu guk, um nicht in ſeiner Seele zu leſen; ſie ſah wohl, daß es zu einer Eroͤrte- rung mit ihm kommen muͤſſe, und war nur daruͤber unruhig, wie ſie ſich entſchuldigen wollte, daß ſie, uͤber der Bemuͤhung den Charakter des Agathons umzubilden, ihren eignen oder doch einen guten Theil davon verloh- ren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/245
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/245>, abgerufen am 28.03.2024.