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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
hat. Wir müssen vielmehr besorgen, daß Leute, wel-
che nichts dafür können, daß sie keine Agathons sind,
vielleicht so weit gehen möchten, ihn im Verdacht zu
haben, daß er sich den tiefen Schlaf, worinn Danae
zu liegen schien, auf eine Art zu Nuze gemacht haben
könnte, welche sich ordentlicher Weise nur für einen
Faunen schikt, und welche unser Freund Johann Ja-
cob Rousseau
selbst nicht schlechterdings gebilliget hätte,
so scharfsinnig er auch (in einer Stelle seines Schrei-
bens an Herrn Dalembert) dasjenige zu rechtferti-
gen weißt, was er "eine stillschweigende Einwilligung
abnöthigen" nennet. Um nun unsern Agathon gegen
alle solche unverschuldete Muthmassungen sicher zu stel-
len, müssen wir zur Steuer der Wahrheit melden, daß
selbst die reizende Lage der schönen Schläferin, und die
günstige Leichtigkeit ihres Anzugs, welche ihn einzula-
den schien, seinen Augen alles zu erlauben, seine Be-
scheidenheit schwerlich überrascht haben würden, wenn
es ihm möglich gewesen wäre, der zauberischen Gewalt
der Empfindung, in welche alle Kräfte seines Wesens
zerflossen schienen, Widerstand zu thun. Wir wagen
nicht zuviel, wenn wir einen solchen Widerstand in
seinen Umständen für unmöglich erklären, nachdem er
einem Agathon unmöglich gewesen ist. Er überließ also
endlich seine Seele der vollkommensten Wonne ihres edel-
sten Sinnes, dem Anschauen einer Schönheit, welche
selbst seine idealische Einbildungskraft weit hinter sich
zurüke ließ; und (was nur diejenigen begreiffen wer-
den, welche die wahre Liebe kennen,) dieses Anschauen

erfüllte

Agathon.
hat. Wir muͤſſen vielmehr beſorgen, daß Leute, wel-
che nichts dafuͤr koͤnnen, daß ſie keine Agathons ſind,
vielleicht ſo weit gehen moͤchten, ihn im Verdacht zu
haben, daß er ſich den tiefen Schlaf, worinn Danae
zu liegen ſchien, auf eine Art zu Nuze gemacht haben
koͤnnte, welche ſich ordentlicher Weiſe nur fuͤr einen
Faunen ſchikt, und welche unſer Freund Johann Ja-
cob Rouſſeau
ſelbſt nicht ſchlechterdings gebilliget haͤtte,
ſo ſcharfſinnig er auch (in einer Stelle ſeines Schrei-
bens an Herrn Dalembert) dasjenige zu rechtferti-
gen weißt, was er „eine ſtillſchweigende Einwilligung
abnoͤthigen„ nennet. Um nun unſern Agathon gegen
alle ſolche unverſchuldete Muthmaſſungen ſicher zu ſtel-
len, muͤſſen wir zur Steuer der Wahrheit melden, daß
ſelbſt die reizende Lage der ſchoͤnen Schlaͤferin, und die
guͤnſtige Leichtigkeit ihres Anzugs, welche ihn einzula-
den ſchien, ſeinen Augen alles zu erlauben, ſeine Be-
ſcheidenheit ſchwerlich uͤberraſcht haben wuͤrden, wenn
es ihm moͤglich geweſen waͤre, der zauberiſchen Gewalt
der Empfindung, in welche alle Kraͤfte ſeines Weſens
zerfloſſen ſchienen, Widerſtand zu thun. Wir wagen
nicht zuviel, wenn wir einen ſolchen Widerſtand in
ſeinen Umſtaͤnden fuͤr unmoͤglich erklaͤren, nachdem er
einem Agathon unmoͤglich geweſen iſt. Er uͤberließ alſo
endlich ſeine Seele der vollkommenſten Wonne ihres edel-
ſten Sinnes, dem Anſchauen einer Schoͤnheit, welche
ſelbſt ſeine idealiſche Einbildungskraft weit hinter ſich
zuruͤke ließ; und (was nur diejenigen begreiffen wer-
den, welche die wahre Liebe kennen,) dieſes Anſchauen

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[206/0228] Agathon. hat. Wir muͤſſen vielmehr beſorgen, daß Leute, wel- che nichts dafuͤr koͤnnen, daß ſie keine Agathons ſind, vielleicht ſo weit gehen moͤchten, ihn im Verdacht zu haben, daß er ſich den tiefen Schlaf, worinn Danae zu liegen ſchien, auf eine Art zu Nuze gemacht haben koͤnnte, welche ſich ordentlicher Weiſe nur fuͤr einen Faunen ſchikt, und welche unſer Freund Johann Ja- cob Rouſſeau ſelbſt nicht ſchlechterdings gebilliget haͤtte, ſo ſcharfſinnig er auch (in einer Stelle ſeines Schrei- bens an Herrn Dalembert) dasjenige zu rechtferti- gen weißt, was er „eine ſtillſchweigende Einwilligung abnoͤthigen„ nennet. Um nun unſern Agathon gegen alle ſolche unverſchuldete Muthmaſſungen ſicher zu ſtel- len, muͤſſen wir zur Steuer der Wahrheit melden, daß ſelbſt die reizende Lage der ſchoͤnen Schlaͤferin, und die guͤnſtige Leichtigkeit ihres Anzugs, welche ihn einzula- den ſchien, ſeinen Augen alles zu erlauben, ſeine Be- ſcheidenheit ſchwerlich uͤberraſcht haben wuͤrden, wenn es ihm moͤglich geweſen waͤre, der zauberiſchen Gewalt der Empfindung, in welche alle Kraͤfte ſeines Weſens zerfloſſen ſchienen, Widerſtand zu thun. Wir wagen nicht zuviel, wenn wir einen ſolchen Widerſtand in ſeinen Umſtaͤnden fuͤr unmoͤglich erklaͤren, nachdem er einem Agathon unmoͤglich geweſen iſt. Er uͤberließ alſo endlich ſeine Seele der vollkommenſten Wonne ihres edel- ſten Sinnes, dem Anſchauen einer Schoͤnheit, welche ſelbſt ſeine idealiſche Einbildungskraft weit hinter ſich zuruͤke ließ; und (was nur diejenigen begreiffen wer- den, welche die wahre Liebe kennen,) dieſes Anſchauen erfuͤllte

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/228>, abgerufen am 24.04.2024.