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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Fünftes Buch, fünftes Capitel.
Wildnissen wie ein Gespenst umherzuirren, den Nah-
men seiner Göttin in Felsen einzugraben, und den tau-
ben Bäumen seine Schmerzen vorzuseußen; ein klägli-
cher Zustand, in Wahrheit, wenn nicht ein einziger
Blik des Gegenstands, von dem diese seltsame Bezau-
berung herrührt, hinlänglich wäre, in einem Wink
diesem Schatten wieder einen Leib, dem Leib eine
Seele, und der Seele diese Begeisterung wieder zu geben,
durch welche sie ohne Beobachtung einiger Gradation
von der Verzweiflung zu unermäßlicher Wonne übergeht.
Wenn Agathon dieses alles nicht völlig in so hohem Grad
erfuhr, als andre von seiner Art, so muß dieses ver-
muthlich allein dem Einfluß beygemessen werden, die
seine werthe Psyche noch in dasjenige hatte, was in
seinem Herzen vorgieng. Allein wir müssen gestehen, dieser
Einfluß wurde immer schwächer; die lebhaften Farben, wo-
mit ihr Bild seiner Phantaste ehemals vorgeschwebt hatte,
wurden immer matter; und austatt daß ihn sonst sein
Herz an sie erinnert hatte, mußte es izt von ohngefehr
und durch einen Zufall geschehen. Endlich verschwand
dieses Bild gänzlich; Psyche hörte auf für ihn zu exi-
stiren, ja kaum erinnerte er sich alles dessen, was vor
seiner Bekanntschaft mit der schönen Danae vorgegan-
gen war anders, als ein erwachsener Mensch sich seiner
ersten Kindheit erinnert. Es ist also leicht zu begreif-
fen, daß seine ganze vormalige Art zu empfinden und
zu seyn, einige Veränderung erlitt, und gleichsam die
Farbe und den Ton des Gegenstands bekam, der mit
einer so unumschränkten Macht auf ihn würkte. Sein

ernst-
M 4

Fuͤnftes Buch, fuͤnftes Capitel.
Wildniſſen wie ein Geſpenſt umherzuirren, den Nah-
men ſeiner Goͤttin in Felſen einzugraben, und den tau-
ben Baͤumen ſeine Schmerzen vorzuſeuſzen; ein klaͤgli-
cher Zuſtand, in Wahrheit, wenn nicht ein einziger
Blik des Gegenſtands, von dem dieſe ſeltſame Bezau-
berung herruͤhrt, hinlaͤnglich waͤre, in einem Wink
dieſem Schatten wieder einen Leib, dem Leib eine
Seele, und der Seele dieſe Begeiſterung wieder zu geben,
durch welche ſie ohne Beobachtung einiger Gradation
von der Verzweiflung zu unermaͤßlicher Wonne uͤbergeht.
Wenn Agathon dieſes alles nicht voͤllig in ſo hohem Grad
erfuhr, als andre von ſeiner Art, ſo muß dieſes ver-
muthlich allein dem Einfluß beygemeſſen werden, die
ſeine werthe Pſyche noch in dasjenige hatte, was in
ſeinem Herzen vorgieng. Allein wir muͤſſen geſtehen, dieſer
Einfluß wurde immer ſchwaͤcher; die lebhaften Farben, wo-
mit ihr Bild ſeiner Phantaſte ehemals vorgeſchwebt hatte,
wurden immer matter; und auſtatt daß ihn ſonſt ſein
Herz an ſie erinnert hatte, mußte es izt von ohngefehr
und durch einen Zufall geſchehen. Endlich verſchwand
dieſes Bild gaͤnzlich; Pſyche hoͤrte auf fuͤr ihn zu exi-
ſtiren, ja kaum erinnerte er ſich alles deſſen, was vor
ſeiner Bekanntſchaft mit der ſchoͤnen Danae vorgegan-
gen war anders, als ein erwachſener Menſch ſich ſeiner
erſten Kindheit erinnert. Es iſt alſo leicht zu begreif-
fen, daß ſeine ganze vormalige Art zu empfinden und
zu ſeyn, einige Veraͤnderung erlitt, und gleichſam die
Farbe und den Ton des Gegenſtands bekam, der mit
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ernſt-
M 4
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[183/0205] Fuͤnftes Buch, fuͤnftes Capitel. Wildniſſen wie ein Geſpenſt umherzuirren, den Nah- men ſeiner Goͤttin in Felſen einzugraben, und den tau- ben Baͤumen ſeine Schmerzen vorzuſeuſzen; ein klaͤgli- cher Zuſtand, in Wahrheit, wenn nicht ein einziger Blik des Gegenſtands, von dem dieſe ſeltſame Bezau- berung herruͤhrt, hinlaͤnglich waͤre, in einem Wink dieſem Schatten wieder einen Leib, dem Leib eine Seele, und der Seele dieſe Begeiſterung wieder zu geben, durch welche ſie ohne Beobachtung einiger Gradation von der Verzweiflung zu unermaͤßlicher Wonne uͤbergeht. Wenn Agathon dieſes alles nicht voͤllig in ſo hohem Grad erfuhr, als andre von ſeiner Art, ſo muß dieſes ver- muthlich allein dem Einfluß beygemeſſen werden, die ſeine werthe Pſyche noch in dasjenige hatte, was in ſeinem Herzen vorgieng. Allein wir muͤſſen geſtehen, dieſer Einfluß wurde immer ſchwaͤcher; die lebhaften Farben, wo- mit ihr Bild ſeiner Phantaſte ehemals vorgeſchwebt hatte, wurden immer matter; und auſtatt daß ihn ſonſt ſein Herz an ſie erinnert hatte, mußte es izt von ohngefehr und durch einen Zufall geſchehen. Endlich verſchwand dieſes Bild gaͤnzlich; Pſyche hoͤrte auf fuͤr ihn zu exi- ſtiren, ja kaum erinnerte er ſich alles deſſen, was vor ſeiner Bekanntſchaft mit der ſchoͤnen Danae vorgegan- gen war anders, als ein erwachſener Menſch ſich ſeiner erſten Kindheit erinnert. Es iſt alſo leicht zu begreif- fen, daß ſeine ganze vormalige Art zu empfinden und zu ſeyn, einige Veraͤnderung erlitt, und gleichſam die Farbe und den Ton des Gegenſtands bekam, der mit einer ſo unumſchraͤnkten Macht auf ihn wuͤrkte. Sein ernſt- M 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/205>, abgerufen am 23.04.2024.