Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon. als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht:Suche dein Bestes; oder mit andern Worten: Befrie- dige deine natürliche Begierden, und geniesse so viel Vergnügen als du kanst. Dieses ist das einzige Gesez, das die Natur dem Menschen gegeben hat; und so lang er sich im Stande der Natur besindet, ist das Recht, das er an alles hat, was seine Begierden verlangen, oder was ihm gut ist, durch nichts anders als das Maaß seiner Stärke eingeschränkt; er darf alles, was er kann, und ist keinem andern nichts schuldig. Al- lein der Stand der Gesellschaft, welcher eine Anzahl von Menschen zu ihrem gemeinschaftlichen Besten ver- einiget, sezt zu jenem einzigen Gesez der Natur, suche dein eignes Bestes, die Einschränkung, ohne einem an- dern zu schaden. Wie also im Stande der Natur ei- nem jeden Menschen alles recht ist, was ihm nüzlich ist; so erklärt im Stande der Gesellschaft das Gesez alles für unrecht und strafwürdig, was der Gesellschaft schädlich ist, und verbindet hingegen die Vorstellung ei- nes Vorzugs und belohnungswürdigen Verdienstes mit allen Handlungen, wodurch der Nuzen oder das Ver- gnügen der Gesellschaft befördert wird. Die Begriffe von Tugend und Laster gründen sich also eines Theils auf den Vertrag den eine gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und in so ferne sind sie willkürlich; an- dern Theils auf dasjenige, was einem jeden Volke nüzlich oder schädlich ist; und daher kommt es, daß ein so großer Widerspruch unter den Gesezen verschied- ner Nationen herrschet. Das Clima, die Lage, die Regie-
Agathon. als die Stimme der Natur, die zu einem jeden ſpricht:Suche dein Beſtes; oder mit andern Worten: Befrie- dige deine natuͤrliche Begierden, und genieſſe ſo viel Vergnuͤgen als du kanſt. Dieſes iſt das einzige Geſez, das die Natur dem Menſchen gegeben hat; und ſo lang er ſich im Stande der Natur beſindet, iſt das Recht, das er an alles hat, was ſeine Begierden verlangen, oder was ihm gut iſt, durch nichts anders als das Maaß ſeiner Staͤrke eingeſchraͤnkt; er darf alles, was er kann, und iſt keinem andern nichts ſchuldig. Al- lein der Stand der Geſellſchaft, welcher eine Anzahl von Menſchen zu ihrem gemeinſchaftlichen Beſten ver- einiget, ſezt zu jenem einzigen Geſez der Natur, ſuche dein eignes Beſtes, die Einſchraͤnkung, ohne einem an- dern zu ſchaden. Wie alſo im Stande der Natur ei- nem jeden Menſchen alles recht iſt, was ihm nuͤzlich iſt; ſo erklaͤrt im Stande der Geſellſchaft das Geſez alles fuͤr unrecht und ſtrafwuͤrdig, was der Geſellſchaft ſchaͤdlich iſt, und verbindet hingegen die Vorſtellung ei- nes Vorzugs und belohnungswuͤrdigen Verdienſtes mit allen Handlungen, wodurch der Nuzen oder das Ver- gnuͤgen der Geſellſchaft befoͤrdert wird. Die Begriffe von Tugend und Laſter gruͤnden ſich alſo eines Theils auf den Vertrag den eine gewiſſe Geſellſchaft unter ſich gemacht hat, und in ſo ferne ſind ſie willkuͤrlich; an- dern Theils auf dasjenige, was einem jeden Volke nuͤzlich oder ſchaͤdlich iſt; und daher kommt es, daß ein ſo großer Widerſpruch unter den Geſezen verſchied- ner Nationen herrſchet. Das Clima, die Lage, die Regie-
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Agathon.
als die Stimme der Natur, die zu einem jeden ſpricht:
Suche dein Beſtes; oder mit andern Worten: Befrie-
dige deine natuͤrliche Begierden, und genieſſe ſo viel
Vergnuͤgen als du kanſt. Dieſes iſt das einzige Geſez,
das die Natur dem Menſchen gegeben hat; und ſo lang
er ſich im Stande der Natur beſindet, iſt das Recht,
das er an alles hat, was ſeine Begierden verlangen,
oder was ihm gut iſt, durch nichts anders als das
Maaß ſeiner Staͤrke eingeſchraͤnkt; er darf alles, was
er kann, und iſt keinem andern nichts ſchuldig. Al-
lein der Stand der Geſellſchaft, welcher eine Anzahl
von Menſchen zu ihrem gemeinſchaftlichen Beſten ver-
einiget, ſezt zu jenem einzigen Geſez der Natur, ſuche
dein eignes Beſtes, die Einſchraͤnkung, ohne einem an-
dern zu ſchaden. Wie alſo im Stande der Natur ei-
nem jeden Menſchen alles recht iſt, was ihm nuͤzlich
iſt; ſo erklaͤrt im Stande der Geſellſchaft das Geſez
alles fuͤr unrecht und ſtrafwuͤrdig, was der Geſellſchaft
ſchaͤdlich iſt, und verbindet hingegen die Vorſtellung ei-
nes Vorzugs und belohnungswuͤrdigen Verdienſtes mit
allen Handlungen, wodurch der Nuzen oder das Ver-
gnuͤgen der Geſellſchaft befoͤrdert wird. Die Begriffe
von Tugend und Laſter gruͤnden ſich alſo eines Theils
auf den Vertrag den eine gewiſſe Geſellſchaft unter ſich
gemacht hat, und in ſo ferne ſind ſie willkuͤrlich; an-
dern Theils auf dasjenige, was einem jeden Volke
nuͤzlich oder ſchaͤdlich iſt; und daher kommt es, daß
ein ſo großer Widerſpruch unter den Geſezen verſchied-
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