richtungen der menschlichen Bedürfnisse ein- geschränkt; doch die ganze Hofhaltung ist ein wahrhaftes Schattenspiel von dem Ne- guz. Wenn er liegt, liegt alles; steht er, steht alles; sizt er, sizt alles; er steckt einen Bissen in den Mund, er trinkt, und jeder- mann unter den sechstausend Zelten, der nur von einiger Beträchtlichkeit ist, thut zu glei- cher Zeit das nämliche; welches alles vermit- telst der ausgestellten öffentlichen Cerimonien- meister, die gleichsam den Takt zu dem Leben der Hofstatt nach der Angabe des Kaisers schlagen, glücklich bewerkstelligt wird.
Belphegor staunte nicht wenig über diese abgezirkelte Etikette, und konnte sich nicht enthalten, sie zu belächeln. O, sprach der Andre, der ein Portugiese war und franzö- sisch sprach, es giebt viel mehr Sonderbar- heiten in diesem Lande, die jene weit übertref- fen. Haben Sie noch keine bemerkt? -- Belphegor besann sich: -- daß hier so viele Leute hinken? fragte er. -- Ja, und wissen Sie warum? erwiederte jener. Als der ge- genwärtige Neguz den Thron bestieg, ver- breitete sich das Gerücht, daß er hinke; so-
richtungen der menſchlichen Beduͤrfniſſe ein- geſchraͤnkt; doch die ganze Hofhaltung iſt ein wahrhaftes Schattenſpiel von dem Ne- guz. Wenn er liegt, liegt alles; ſteht er, ſteht alles; ſizt er, ſizt alles; er ſteckt einen Biſſen in den Mund, er trinkt, und jeder- mann unter den ſechstauſend Zelten, der nur von einiger Betraͤchtlichkeit iſt, thut zu glei- cher Zeit das naͤmliche; welches alles vermit- telſt der ausgeſtellten oͤffentlichen Cerimonien- meiſter, die gleichſam den Takt zu dem Leben der Hofſtatt nach der Angabe des Kaiſers ſchlagen, gluͤcklich bewerkſtelligt wird.
Belphegor ſtaunte nicht wenig uͤber dieſe abgezirkelte Etikette, und konnte ſich nicht enthalten, ſie zu belaͤcheln. O, ſprach der Andre, der ein Portugieſe war und franzoͤ- ſiſch ſprach, es giebt viel mehr Sonderbar- heiten in dieſem Lande, die jene weit uͤbertref- fen. Haben Sie noch keine bemerkt? — Belphegor beſann ſich: — daß hier ſo viele Leute hinken? fragte er. — Ja, und wiſſen Sie warum? erwiederte jener. Als der ge- genwaͤrtige Neguz den Thron beſtieg, ver- breitete ſich das Geruͤcht, daß er hinke; ſo-
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richtungen der menſchlichen Beduͤrfniſſe ein-
geſchraͤnkt; doch die ganze Hofhaltung iſt
ein wahrhaftes Schattenſpiel von dem Ne-
guz. Wenn er liegt, liegt alles; ſteht er,
ſteht alles; ſizt er, ſizt alles; er ſteckt einen
Biſſen in den Mund, er trinkt, und jeder-
mann unter den ſechstauſend Zelten, der nur
von einiger Betraͤchtlichkeit iſt, thut zu glei-
cher Zeit das naͤmliche; welches alles vermit-
telſt der ausgeſtellten oͤffentlichen Cerimonien-
meiſter, die gleichſam den Takt zu dem Leben
der Hofſtatt nach der Angabe des Kaiſers
ſchlagen, gluͤcklich bewerkſtelligt wird.
Belphegor ſtaunte nicht wenig uͤber dieſe
abgezirkelte Etikette, und konnte ſich nicht
enthalten, ſie zu belaͤcheln. O, ſprach der
Andre, der ein Portugieſe war und franzoͤ-
ſiſch ſprach, es giebt viel mehr Sonderbar-
heiten in dieſem Lande, die jene weit uͤbertref-
fen. Haben Sie noch keine bemerkt? —
Belphegor beſann ſich: — daß hier ſo viele
Leute hinken? fragte er. — Ja, und wiſſen
Sie warum? erwiederte jener. Als der ge-
genwaͤrtige Neguz den Thron beſtieg, ver-
breitete ſich das Geruͤcht, daß er hinke; ſo-
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Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor01_1776/302>, abgerufen am 22.11.2024.
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