unserer Bestimmung, aber wer beschreibt mein erschreckendes Er- staunen, als wir aus dem Walde traten und uns statt des freundlich einladenden Hauses, das mich vor zwei Jahren so gastfrei aufgenommen, nur ein Trümmerhaufen entgegenstarrte.
Ein Bergsturz hatte den größten Theil der Gebäude be- graben, das Uebrige war niedergebrannt, alles öde und ver- lassen. Das Unglück mußte schon vor längerer Zeit stattge- funden haben, denn üppige Schlinggewächse überwucherten be- reits die verkohlten Balken. Nirgends konnten wir ein Anzeichen von der Nähe menschlicher Bewohner entdecken; aller Wahr- scheinlichkeit nach war mein Freund und seine Familie Nachts von der Katastrophe überrascht worden und Alle hatten unter den Trümmern der Wohnung ihr Grab gefunden.
Mit tiefer Trauer im Herzen schickte ich mich an, den Rückweg anzutreten. Es war jedoch so dunkel geworden, daß wir den Pfad durch den Urwald nicht zu erkennen vermochten, und so blieb uns nichts übrig, als die Nacht unter freiem Himmel zuzubringen. Wir fesselten unsere Maulthiere, nahmen unser Abendbrod ein, schnürten dann die Hängematten, die uns jetzt vortrefflich zu statten kamen, zwischen den Bäumen auf und ruhten in der duftathmenden Atmosphäre und unter dem dichten Laubdach des Urwaldes, das uns auch gegen Regen vollständig geschützt haben würde, ganz behaglich.
Andern Morgens erweckte mich ein aus der Ferne er- tönender Gesang. Im Halbschlafe konnte ich mich zuerst gar nicht recht orientiren; als ich ganz wach wurde, erkannte ich jedoch das Lied: "Wer hat Dich Du schöner Wald". Es wurde vierstimmig gesungen, klang aber so voll, daß jede Stimme wenigstens zehnfach besetzt sein mußte. Vergebens sah ich mich nach den Sängern um, Niemand war zu entdecken. Die Sache wurde mir unheimlich. Wie kam mitten in einen brasilianischen Urwald ein deutscher Sängerchor? Bei aufmerksameren Hin- hören unterschied ich, daß die Stimmen aus der Höhe kamen.
Ernſtes und Heiteres
unſerer Beſtimmung, aber wer beſchreibt mein erſchreckendes Er- ſtaunen, als wir aus dem Walde traten und uns ſtatt des freundlich einladenden Hauſes, das mich vor zwei Jahren ſo gaſtfrei aufgenommen, nur ein Trümmerhaufen entgegenſtarrte.
Ein Bergſturz hatte den größten Theil der Gebäude be- graben, das Uebrige war niedergebrannt, alles öde und ver- laſſen. Das Unglück mußte ſchon vor längerer Zeit ſtattge- funden haben, denn üppige Schlinggewächſe überwucherten be- reits die verkohlten Balken. Nirgends konnten wir ein Anzeichen von der Nähe menſchlicher Bewohner entdecken; aller Wahr- ſcheinlichkeit nach war mein Freund und ſeine Familie Nachts von der Kataſtrophe überraſcht worden und Alle hatten unter den Trümmern der Wohnung ihr Grab gefunden.
Mit tiefer Trauer im Herzen ſchickte ich mich an, den Rückweg anzutreten. Es war jedoch ſo dunkel geworden, daß wir den Pfad durch den Urwald nicht zu erkennen vermochten, und ſo blieb uns nichts übrig, als die Nacht unter freiem Himmel zuzubringen. Wir feſſelten unſere Maulthiere, nahmen unſer Abendbrod ein, ſchnürten dann die Hängematten, die uns jetzt vortrefflich zu ſtatten kamen, zwiſchen den Bäumen auf und ruhten in der duftathmenden Atmoſphäre und unter dem dichten Laubdach des Urwaldes, das uns auch gegen Regen vollſtändig geſchützt haben würde, ganz behaglich.
Andern Morgens erweckte mich ein aus der Ferne er- tönender Geſang. Im Halbſchlafe konnte ich mich zuerſt gar nicht recht orientiren; als ich ganz wach wurde, erkannte ich jedoch das Lied: „Wer hat Dich Du ſchöner Wald“. Es wurde vierſtimmig geſungen, klang aber ſo voll, daß jede Stimme wenigſtens zehnfach beſetzt ſein mußte. Vergebens ſah ich mich nach den Sängern um, Niemand war zu entdecken. Die Sache wurde mir unheimlich. Wie kam mitten in einen braſilianiſchen Urwald ein deutſcher Sängerchor? Bei aufmerkſameren Hin- hören unterſchied ich, daß die Stimmen aus der Höhe kamen.
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Ernſtes und Heiteres
unſerer Beſtimmung, aber wer beſchreibt mein erſchreckendes Er-
ſtaunen, als wir aus dem Walde traten und uns ſtatt des
freundlich einladenden Hauſes, das mich vor zwei Jahren ſo
gaſtfrei aufgenommen, nur ein Trümmerhaufen entgegenſtarrte.
Ein Bergſturz hatte den größten Theil der Gebäude be-
graben, das Uebrige war niedergebrannt, alles öde und ver-
laſſen. Das Unglück mußte ſchon vor längerer Zeit ſtattge-
funden haben, denn üppige Schlinggewächſe überwucherten be-
reits die verkohlten Balken. Nirgends konnten wir ein Anzeichen
von der Nähe menſchlicher Bewohner entdecken; aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach war mein Freund und ſeine Familie Nachts
von der Kataſtrophe überraſcht worden und Alle hatten unter
den Trümmern der Wohnung ihr Grab gefunden.
Mit tiefer Trauer im Herzen ſchickte ich mich an, den
Rückweg anzutreten. Es war jedoch ſo dunkel geworden, daß
wir den Pfad durch den Urwald nicht zu erkennen vermochten,
und ſo blieb uns nichts übrig, als die Nacht unter freiem
Himmel zuzubringen. Wir feſſelten unſere Maulthiere, nahmen
unſer Abendbrod ein, ſchnürten dann die Hängematten, die uns
jetzt vortrefflich zu ſtatten kamen, zwiſchen den Bäumen auf und
ruhten in der duftathmenden Atmoſphäre und unter dem dichten
Laubdach des Urwaldes, das uns auch gegen Regen vollſtändig
geſchützt haben würde, ganz behaglich.
Andern Morgens erweckte mich ein aus der Ferne er-
tönender Geſang. Im Halbſchlafe konnte ich mich zuerſt gar
nicht recht orientiren; als ich ganz wach wurde, erkannte ich
jedoch das Lied: „Wer hat Dich Du ſchöner Wald“. Es
wurde vierſtimmig geſungen, klang aber ſo voll, daß jede Stimme
wenigſtens zehnfach beſetzt ſein mußte. Vergebens ſah ich mich
nach den Sängern um, Niemand war zu entdecken. Die Sache
wurde mir unheimlich. Wie kam mitten in einen braſilianiſchen
Urwald ein deutſcher Sängerchor? Bei aufmerkſameren Hin-
hören unterſchied ich, daß die Stimmen aus der Höhe kamen.
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Werner, Reinhold von: Erinnerungen und Bilder aus dem Seeleben. Berlin, 1880, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/werner_seeleben_1880/295>, abgerufen am 22.11.2024.
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