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Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

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plasma durch Abänderungen des Körpers in adäquater Weise
umgewandelt werden könne, und steht offenbar dem La-
marckismus gegenüber auf meiner Seite.

Die ganze Frage gipfelt ja darin, ob functionelle Hyper-
trophie oder Atrophie vererbbar sind; an dieser Entschei-
dung hängt es, ob wir das Hauptveränderungsprincip La-
marck's
, "Uebung oder Nichtgebrauch eines Organs", bei-
behalten dürfen oder nicht.

Emery's Satz nun, dass erworbene Eigenschaften der
Organismen vererbt werden könnten, bezieht sich gar nicht
auf functionelle Abänderungen, sondern auf ganz andere Er-
scheinungen, die mit dem Lamarck'schen Entwickelungs-
princip nichts zu thun haben, nämlich auf die Vererb-
barkeit allgemeiner Zustände des Körpers
, wie
des Alkoholismus, der Epilepsie und der erwor-
benen Immunität für gewisse Krankheiten
. Er
stellt sich vor, es seien "chemische Fermente", welche in
flüssiger Form von den Keimzellen aufgenommen und so auf
die folgende Generation übertragen würden, und die nun
dort die entsprechenden Krankheiten oder Immunitäten er-
zeugten. Ich will darüber nicht streiten, ob diese Vor-
stellung haltbar oder gar heute schon beweisbar sei, aber
ich möchte fragen, ob es zweckmässig ist, diese Uebertragung
von Zuständen der Eltern auf die Kinder "Vererbung"
zu nennen? Ich selbst habe einige davon als "Infection"
des Keimes bezeichnet, soweit es mir nämlich nachgewiesen
oder doch wahrscheinlich schien, dass sie auf der Ueber-
tragung fremder parasitischer Organismen beruhen, wie dies
für die Pebrine der Seidenraupe sicher, für die Syphilis
mindestens wahrscheinlich, für die traumatische Epilepsie
wenigstens denkbar ist. Warum sollen wir den scharf ge-

plasma durch Abänderungen des Körpers in adäquater Weise
umgewandelt werden könne, und steht offenbar dem La-
marckismus gegenüber auf meiner Seite.

Die ganze Frage gipfelt ja darin, ob functionelle Hyper-
trophie oder Atrophie vererbbar sind; an dieser Entschei-
dung hängt es, ob wir das Hauptveränderungsprincip La-
marck’s
, „Uebung oder Nichtgebrauch eines Organs“, bei-
behalten dürfen oder nicht.

Eméry’s Satz nun, dass erworbene Eigenschaften der
Organismen vererbt werden könnten, bezieht sich gar nicht
auf functionelle Abänderungen, sondern auf ganz andere Er-
scheinungen, die mit dem Lamarck’schen Entwickelungs-
princip nichts zu thun haben, nämlich auf die Vererb-
barkeit allgemeiner Zustände des Körpers
, wie
des Alkoholismus, der Epilepsie und der erwor-
benen Immunität für gewisse Krankheiten
. Er
stellt sich vor, es seien „chemische Fermente“, welche in
flüssiger Form von den Keimzellen aufgenommen und so auf
die folgende Generation übertragen würden, und die nun
dort die entsprechenden Krankheiten oder Immunitäten er-
zeugten. Ich will darüber nicht streiten, ob diese Vor-
stellung haltbar oder gar heute schon beweisbar sei, aber
ich möchte fragen, ob es zweckmässig ist, diese Uebertragung
von Zuständen der Eltern auf die Kinder „Vererbung“
zu nennen? Ich selbst habe einige davon als „Infection“
des Keimes bezeichnet, soweit es mir nämlich nachgewiesen
oder doch wahrscheinlich schien, dass sie auf der Ueber-
tragung fremder parasitischer Organismen beruhen, wie dies
für die Pebrine der Seidenraupe sicher, für die Syphilis
mindestens wahrscheinlich, für die traumatische Epilepsie
wenigstens denkbar ist. Warum sollen wir den scharf ge-

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[93/0105] plasma durch Abänderungen des Körpers in adäquater Weise umgewandelt werden könne, und steht offenbar dem La- marckismus gegenüber auf meiner Seite. Die ganze Frage gipfelt ja darin, ob functionelle Hyper- trophie oder Atrophie vererbbar sind; an dieser Entschei- dung hängt es, ob wir das Hauptveränderungsprincip La- marck’s, „Uebung oder Nichtgebrauch eines Organs“, bei- behalten dürfen oder nicht. Eméry’s Satz nun, dass erworbene Eigenschaften der Organismen vererbt werden könnten, bezieht sich gar nicht auf functionelle Abänderungen, sondern auf ganz andere Er- scheinungen, die mit dem Lamarck’schen Entwickelungs- princip nichts zu thun haben, nämlich auf die Vererb- barkeit allgemeiner Zustände des Körpers, wie des Alkoholismus, der Epilepsie und der erwor- benen Immunität für gewisse Krankheiten. Er stellt sich vor, es seien „chemische Fermente“, welche in flüssiger Form von den Keimzellen aufgenommen und so auf die folgende Generation übertragen würden, und die nun dort die entsprechenden Krankheiten oder Immunitäten er- zeugten. Ich will darüber nicht streiten, ob diese Vor- stellung haltbar oder gar heute schon beweisbar sei, aber ich möchte fragen, ob es zweckmässig ist, diese Uebertragung von Zuständen der Eltern auf die Kinder „Vererbung“ zu nennen? Ich selbst habe einige davon als „Infection“ des Keimes bezeichnet, soweit es mir nämlich nachgewiesen oder doch wahrscheinlich schien, dass sie auf der Ueber- tragung fremder parasitischer Organismen beruhen, wie dies für die Pebrine der Seidenraupe sicher, für die Syphilis mindestens wahrscheinlich, für die traumatische Epilepsie wenigstens denkbar ist. Warum sollen wir den scharf ge-

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Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/105>, abgerufen am 27.04.2024.