Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

verlange, dass es von schon vorhandenem Protoplasma abstamme.
Damit wäre der logisch unvermeidlichen und unentbehrlichen
Urzeugung der Weg für immer verlegt nicht nur in unserm
Laboratorium, sondern auch im grossen Laboratorium der
Natur. Zweifellos besitzen die meisten Protoplasma-Arten, ver-
muthlich sogar alle, die wir kennen, auch "historische" Eigen-
schaften nicht neben, aber doch in ihren physikalisch-
chemischen; d. h. sie enthalten specielle, ihnen eigenthümliche
Modificationen der Zusammensetzung, welche in Anpassung
an die Lebensbedingungen entstanden und durch lange Zeit-
räume hindurch weiter vererbt worden sind. Allein undenk-
bar scheint mir doch ein Protoplasma nicht welches "historische",
d. h. ererbte Eigenschaften noch nicht besässe. Dieses wäre
dann die einfachste Form der lebenden Substanz, das einfache
Ur-Protoplasma, welches vermöge seiner physischen Beschaffen-
heit die Grundkräfte des Lebens: Assimilation, Stoffwechsel
u. s. w. in sich enthielte. Die historischen Eigenschaften des
Protoplasma's, die speciellen Vererbungstendenzen, berühren
diese Grundkräfte des Lebens nicht, dieselben müssen unabhängig
von ihnen in jedem Protoplasma vorhanden sein.

Die Einheiten nun, welche die Lebenskräfte des Proto-
plasma's bedingen, können, wie Alle1) hervorhoben, die solche
Einheiten annahmen, nicht die chemischen Moleküle sein, da
diese erfahrungsgemäss nicht die Fähigkeit der Assimilation
und Vermehrung besitzen. Daraus folgt schon, dass das Proto-
plasma ein zusammengesetzter Körper ist, der nicht aus gleich-
artigen, sondern aus verschiedenartigen Molekülen besteht. Es
giebt also keine Protoplasma-Moleküle, sondern wir haben uns
zu denken, dass das Protoplasma in allen, auch den einfachsten
Modificationen aus Molekülgruppen besteht, deren jede sich

1) Es sind dies: Brücke, Herbert Spencer, de Vries und
Wiesner.

verlange, dass es von schon vorhandenem Protoplasma abstamme.
Damit wäre der logisch unvermeidlichen und unentbehrlichen
Urzeugung der Weg für immer verlegt nicht nur in unserm
Laboratorium, sondern auch im grossen Laboratorium der
Natur. Zweifellos besitzen die meisten Protoplasma-Arten, ver-
muthlich sogar alle, die wir kennen, auch „historische“ Eigen-
schaften nicht neben, aber doch in ihren physikalisch-
chemischen; d. h. sie enthalten specielle, ihnen eigenthümliche
Modificationen der Zusammensetzung, welche in Anpassung
an die Lebensbedingungen entstanden und durch lange Zeit-
räume hindurch weiter vererbt worden sind. Allein undenk-
bar scheint mir doch ein Protoplasma nicht welches „historische“,
d. h. ererbte Eigenschaften noch nicht besässe. Dieses wäre
dann die einfachste Form der lebenden Substanz, das einfache
Ur-Protoplasma, welches vermöge seiner physischen Beschaffen-
heit die Grundkräfte des Lebens: Assimilation, Stoffwechsel
u. s. w. in sich enthielte. Die historischen Eigenschaften des
Protoplasma’s, die speciellen Vererbungstendenzen, berühren
diese Grundkräfte des Lebens nicht, dieselben müssen unabhängig
von ihnen in jedem Protoplasma vorhanden sein.

Die Einheiten nun, welche die Lebenskräfte des Proto-
plasma’s bedingen, können, wie Alle1) hervorhoben, die solche
Einheiten annahmen, nicht die chemischen Moleküle sein, da
diese erfahrungsgemäss nicht die Fähigkeit der Assimilation
und Vermehrung besitzen. Daraus folgt schon, dass das Proto-
plasma ein zusammengesetzter Körper ist, der nicht aus gleich-
artigen, sondern aus verschiedenartigen Molekülen besteht. Es
giebt also keine Protoplasma-Moleküle, sondern wir haben uns
zu denken, dass das Protoplasma in allen, auch den einfachsten
Modificationen aus Molekülgruppen besteht, deren jede sich

1) Es sind dies: Brücke, Herbert Spencer, de Vries und
Wiesner.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0076" n="52"/>
verlange, dass es von schon vorhandenem Protoplasma abstamme.<lb/>
Damit wäre der logisch unvermeidlichen und unentbehrlichen<lb/>
Urzeugung der Weg für immer verlegt nicht nur in unserm<lb/>
Laboratorium, sondern auch im grossen Laboratorium der<lb/>
Natur. Zweifellos besitzen die meisten Protoplasma-Arten, ver-<lb/>
muthlich sogar alle, die wir kennen, auch &#x201E;historische&#x201C; Eigen-<lb/>
schaften nicht <hi rendition="#g">neben</hi>, aber doch in ihren physikalisch-<lb/>
chemischen; d. h. sie enthalten specielle, ihnen eigenthümliche<lb/>
Modificationen der Zusammensetzung, welche in Anpassung<lb/>
an die Lebensbedingungen entstanden und durch lange Zeit-<lb/>
räume hindurch weiter vererbt worden sind. Allein undenk-<lb/>
bar scheint mir doch ein Protoplasma nicht welches &#x201E;historische&#x201C;,<lb/>
d. h. ererbte Eigenschaften noch nicht besässe. Dieses wäre<lb/>
dann die einfachste Form der lebenden Substanz, das einfache<lb/>
Ur-Protoplasma, welches vermöge seiner physischen Beschaffen-<lb/>
heit die Grundkräfte des Lebens: Assimilation, Stoffwechsel<lb/>
u. s. w. in sich enthielte. Die <hi rendition="#g">historischen</hi> Eigenschaften des<lb/>
Protoplasma&#x2019;s, die speciellen Vererbungstendenzen, berühren<lb/>
diese Grundkräfte des Lebens nicht, dieselben müssen unabhängig<lb/>
von ihnen in jedem Protoplasma vorhanden sein.</p><lb/>
            <p>Die Einheiten nun, welche die Lebenskräfte des Proto-<lb/>
plasma&#x2019;s bedingen, können, wie Alle<note place="foot" n="1)">Es sind dies: <hi rendition="#g">Brücke, Herbert Spencer, de Vries</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Wiesner</hi>.</note> hervorhoben, die solche<lb/>
Einheiten annahmen, nicht die chemischen Moleküle sein, da<lb/>
diese erfahrungsgemäss nicht die Fähigkeit der Assimilation<lb/>
und Vermehrung besitzen. Daraus folgt schon, dass das Proto-<lb/>
plasma ein zusammengesetzter Körper ist, der nicht aus gleich-<lb/>
artigen, sondern aus verschiedenartigen Molekülen besteht. Es<lb/>
giebt also keine Protoplasma-Moleküle, sondern wir haben uns<lb/>
zu denken, dass das Protoplasma in allen, auch den einfachsten<lb/>
Modificationen aus Molekül<hi rendition="#g">gruppen</hi> besteht, deren jede sich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0076] verlange, dass es von schon vorhandenem Protoplasma abstamme. Damit wäre der logisch unvermeidlichen und unentbehrlichen Urzeugung der Weg für immer verlegt nicht nur in unserm Laboratorium, sondern auch im grossen Laboratorium der Natur. Zweifellos besitzen die meisten Protoplasma-Arten, ver- muthlich sogar alle, die wir kennen, auch „historische“ Eigen- schaften nicht neben, aber doch in ihren physikalisch- chemischen; d. h. sie enthalten specielle, ihnen eigenthümliche Modificationen der Zusammensetzung, welche in Anpassung an die Lebensbedingungen entstanden und durch lange Zeit- räume hindurch weiter vererbt worden sind. Allein undenk- bar scheint mir doch ein Protoplasma nicht welches „historische“, d. h. ererbte Eigenschaften noch nicht besässe. Dieses wäre dann die einfachste Form der lebenden Substanz, das einfache Ur-Protoplasma, welches vermöge seiner physischen Beschaffen- heit die Grundkräfte des Lebens: Assimilation, Stoffwechsel u. s. w. in sich enthielte. Die historischen Eigenschaften des Protoplasma’s, die speciellen Vererbungstendenzen, berühren diese Grundkräfte des Lebens nicht, dieselben müssen unabhängig von ihnen in jedem Protoplasma vorhanden sein. Die Einheiten nun, welche die Lebenskräfte des Proto- plasma’s bedingen, können, wie Alle 1) hervorhoben, die solche Einheiten annahmen, nicht die chemischen Moleküle sein, da diese erfahrungsgemäss nicht die Fähigkeit der Assimilation und Vermehrung besitzen. Daraus folgt schon, dass das Proto- plasma ein zusammengesetzter Körper ist, der nicht aus gleich- artigen, sondern aus verschiedenartigen Molekülen besteht. Es giebt also keine Protoplasma-Moleküle, sondern wir haben uns zu denken, dass das Protoplasma in allen, auch den einfachsten Modificationen aus Molekülgruppen besteht, deren jede sich 1) Es sind dies: Brücke, Herbert Spencer, de Vries und Wiesner.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/76
Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/76>, abgerufen am 01.05.2024.