Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

Ein blühender Apfelbaum giebt ein annäherndes Bild davon,
wenn man die Blüthen für die die Spitze der Endzweige
krönenden Keimzellen nimmt. Aber was beweist und worauf
beruht dieser Unterschied? ist er etwa in der Thier- oder
Pflanzennatur der Organismen begründet? Keineswegs, denn
wir begegnen, wie auch de Vries beiläufig anerkennt, genau
derselben Art der Verzweigung bei den Haupt-Keimbahnen der
Hydroid-Polypen. Sie beruht einfach darauf, dass bei Hydroid-
Polypen die höhere Individualität des Stockes gebildet
wird, gerade wie bei höheren Pflanzen; wir haben es in beiden
Fällen nicht mit einer einzigen Person und ihrer Keimzellen-
bildung zu thun, sondern mit einer Vielzahl von Personen, die
von einer ersten durch Knospung entstanden, und von denen
jede ihr eigenes Soma und ihre eigene Keimzellenbildung hat.
Die aus dem Ei sich entwickelnde erste Person des Stockes
birgt in sich die Keimbahn, von deren Zellen irgendwo eine
Seiten-Keimbahn abgeht, sobald dieser erste Polyp eine Knospe
treibt. Bald treibt er eine zweite, in die dann ebenfalls eine
Seiten-Keimbahn abgeht, und nun treiben die beiden Knospen,
nachdem sie sich in fertige Polypen umgebildet haben, selbst
wieder Knospen, in die Keimbahnen abgehen, u. s. w. Daher
rührt die vielfache Verästelung der Keimbahn, und es ist dabei
ganz gleichgültig, ob der einzelnen Person des Stockes grössere
oder geringere Selbstständigkeit und Vollständigkeit zu Theil
wird, ob man es mit grösserem oder geringerem Recht als
"Individuum" ansieht. Sobald gleichwerthige Abschnitte peri-
odisch sich wiederholen und als Theilstücke oder Metameren
sich aneinanderreihen, jede von einem nahezu gleichen Ausgangs-
punkt hervorwachsend, und soweit jedes dieser Theilstücke Keim-
zellen produciren kann, so haben wir das oben besprochene
Bild des Keimzellen-Stammbaumes.

Wenn aber nun gefragt wird, was uns dieser Verlauf der

Ein blühender Apfelbaum giebt ein annäherndes Bild davon,
wenn man die Blüthen für die die Spitze der Endzweige
krönenden Keimzellen nimmt. Aber was beweist und worauf
beruht dieser Unterschied? ist er etwa in der Thier- oder
Pflanzennatur der Organismen begründet? Keineswegs, denn
wir begegnen, wie auch de Vries beiläufig anerkennt, genau
derselben Art der Verzweigung bei den Haupt-Keimbahnen der
Hydroid-Polypen. Sie beruht einfach darauf, dass bei Hydroid-
Polypen die höhere Individualität des Stockes gebildet
wird, gerade wie bei höheren Pflanzen; wir haben es in beiden
Fällen nicht mit einer einzigen Person und ihrer Keimzellen-
bildung zu thun, sondern mit einer Vielzahl von Personen, die
von einer ersten durch Knospung entstanden, und von denen
jede ihr eigenes Soma und ihre eigene Keimzellenbildung hat.
Die aus dem Ei sich entwickelnde erste Person des Stockes
birgt in sich die Keimbahn, von deren Zellen irgendwo eine
Seiten-Keimbahn abgeht, sobald dieser erste Polyp eine Knospe
treibt. Bald treibt er eine zweite, in die dann ebenfalls eine
Seiten-Keimbahn abgeht, und nun treiben die beiden Knospen,
nachdem sie sich in fertige Polypen umgebildet haben, selbst
wieder Knospen, in die Keimbahnen abgehen, u. s. w. Daher
rührt die vielfache Verästelung der Keimbahn, und es ist dabei
ganz gleichgültig, ob der einzelnen Person des Stockes grössere
oder geringere Selbstständigkeit und Vollständigkeit zu Theil
wird, ob man es mit grösserem oder geringerem Recht als
„Individuum“ ansieht. Sobald gleichwerthige Abschnitte peri-
odisch sich wiederholen und als Theilstücke oder Metameren
sich aneinanderreihen, jede von einem nahezu gleichen Ausgangs-
punkt hervorwachsend, und soweit jedes dieser Theilstücke Keim-
zellen produciren kann, so haben wir das oben besprochene
Bild des Keimzellen-Stammbaumes.

Wenn aber nun gefragt wird, was uns dieser Verlauf der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0296" n="272"/>
Ein blühender Apfelbaum giebt ein annäherndes Bild davon,<lb/>
wenn man die Blüthen für die die Spitze der Endzweige<lb/>
krönenden Keimzellen nimmt. Aber was beweist und worauf<lb/>
beruht dieser Unterschied? ist er etwa in der Thier- oder<lb/>
Pflanzennatur der Organismen begründet? Keineswegs, denn<lb/>
wir begegnen, wie auch <hi rendition="#g">de Vries</hi> beiläufig anerkennt, genau<lb/>
derselben Art der Verzweigung bei den Haupt-Keimbahnen der<lb/>
Hydroid-Polypen. Sie beruht einfach darauf, dass bei Hydroid-<lb/>
Polypen <hi rendition="#g">die höhere Individualität des Stockes</hi> gebildet<lb/>
wird, gerade wie bei höheren Pflanzen; wir haben es in beiden<lb/>
Fällen nicht mit einer einzigen Person und ihrer Keimzellen-<lb/>
bildung zu thun, sondern mit einer Vielzahl von Personen, die<lb/>
von einer ersten durch Knospung entstanden, und von denen<lb/>
jede ihr eigenes Soma und ihre eigene Keimzellenbildung hat.<lb/>
Die aus dem Ei sich entwickelnde erste Person des Stockes<lb/>
birgt in sich die Keimbahn, von deren Zellen irgendwo eine<lb/>
Seiten-Keimbahn abgeht, sobald dieser erste Polyp eine Knospe<lb/>
treibt. Bald treibt er eine zweite, in die dann ebenfalls eine<lb/>
Seiten-Keimbahn abgeht, und nun treiben die beiden Knospen,<lb/>
nachdem sie sich in fertige Polypen umgebildet haben, selbst<lb/>
wieder Knospen, in die Keimbahnen abgehen, u. s. w. Daher<lb/>
rührt die vielfache Verästelung der Keimbahn, und es ist dabei<lb/>
ganz gleichgültig, ob der einzelnen Person des Stockes grössere<lb/>
oder geringere Selbstständigkeit und Vollständigkeit zu Theil<lb/>
wird, ob man es mit grösserem oder geringerem Recht als<lb/>
&#x201E;Individuum&#x201C; ansieht. Sobald gleichwerthige Abschnitte peri-<lb/>
odisch sich wiederholen und als Theilstücke oder Metameren<lb/>
sich aneinanderreihen, jede von einem nahezu gleichen Ausgangs-<lb/>
punkt hervorwachsend, und soweit jedes dieser Theilstücke Keim-<lb/>
zellen produciren kann, so haben wir das oben besprochene<lb/>
Bild des Keimzellen-Stammbaumes.</p><lb/>
            <p>Wenn aber nun gefragt wird, was uns dieser Verlauf der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0296] Ein blühender Apfelbaum giebt ein annäherndes Bild davon, wenn man die Blüthen für die die Spitze der Endzweige krönenden Keimzellen nimmt. Aber was beweist und worauf beruht dieser Unterschied? ist er etwa in der Thier- oder Pflanzennatur der Organismen begründet? Keineswegs, denn wir begegnen, wie auch de Vries beiläufig anerkennt, genau derselben Art der Verzweigung bei den Haupt-Keimbahnen der Hydroid-Polypen. Sie beruht einfach darauf, dass bei Hydroid- Polypen die höhere Individualität des Stockes gebildet wird, gerade wie bei höheren Pflanzen; wir haben es in beiden Fällen nicht mit einer einzigen Person und ihrer Keimzellen- bildung zu thun, sondern mit einer Vielzahl von Personen, die von einer ersten durch Knospung entstanden, und von denen jede ihr eigenes Soma und ihre eigene Keimzellenbildung hat. Die aus dem Ei sich entwickelnde erste Person des Stockes birgt in sich die Keimbahn, von deren Zellen irgendwo eine Seiten-Keimbahn abgeht, sobald dieser erste Polyp eine Knospe treibt. Bald treibt er eine zweite, in die dann ebenfalls eine Seiten-Keimbahn abgeht, und nun treiben die beiden Knospen, nachdem sie sich in fertige Polypen umgebildet haben, selbst wieder Knospen, in die Keimbahnen abgehen, u. s. w. Daher rührt die vielfache Verästelung der Keimbahn, und es ist dabei ganz gleichgültig, ob der einzelnen Person des Stockes grössere oder geringere Selbstständigkeit und Vollständigkeit zu Theil wird, ob man es mit grösserem oder geringerem Recht als „Individuum“ ansieht. Sobald gleichwerthige Abschnitte peri- odisch sich wiederholen und als Theilstücke oder Metameren sich aneinanderreihen, jede von einem nahezu gleichen Ausgangs- punkt hervorwachsend, und soweit jedes dieser Theilstücke Keim- zellen produciren kann, so haben wir das oben besprochene Bild des Keimzellen-Stammbaumes. Wenn aber nun gefragt wird, was uns dieser Verlauf der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/296
Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/296>, abgerufen am 25.11.2024.