Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_024.001 In diesem Sinne bedeutet auch die folgende Einteilung der Probleme bloß pwe_024.026 Literaturwissenschaft ist erstens bewahrender und rettender Dienst am pwe_024.030 Sie ist zweitens Wissenschaft von der Entstehungs- und Seinsweise, von pwe_024.033 Sie ist drittens Wissenschaft von den Zusammenhängen der Werke unter sich, pwe_024.036 Zwischen das dritte und fünfte Kapitel stellen wir die Betrachtungsweisen, pwe_024.038 pwe_024.001 In diesem Sinne bedeutet auch die folgende Einteilung der Probleme bloß pwe_024.026 Literaturwissenschaft ist erstens bewahrender und rettender Dienst am pwe_024.030 Sie ist zweitens Wissenschaft von der Entstehungs- und Seinsweise, von pwe_024.033 Sie ist drittens Wissenschaft von den Zusammenhängen der Werke unter sich, pwe_024.036 Zwischen das dritte und fünfte Kapitel stellen wir die Betrachtungsweisen, pwe_024.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0030" n="24"/><lb n="pwe_024.001"/> getreten ist, so ist damit das Problem einer <hi rendition="#g">historischen</hi> „Synthese“ <lb n="pwe_024.002"/> keinswegs überholt. Gewiß sind Begriffe wie Fortschritt oder Entwicklung <lb n="pwe_024.003"/> für die Literaturgeschichte fragwürdig geworden; die geschilderten Wandlungen <lb n="pwe_024.004"/> im Bild des Menschen, die neue Fassung des Begriffs der Zeit und <lb n="pwe_024.005"/> die Relativierung des Bewußtseins lassen keine schön konstruierte „Geistesgeschichte“ <lb n="pwe_024.006"/> mehr zu. Aber die Existenz eines höheren Zusammenhangs, zu <lb n="pwe_024.007"/> welchem sich die dichterischen Werke in zeitlichen Verläufen und zusammengehörigen <lb n="pwe_024.008"/> Gruppen vereinigen, ist damit nicht widerlegt; die geschichtliche <lb n="pwe_024.009"/> Dimension des Einzelwerks selbst ist nicht zu übersehen. Von der <lb n="pwe_024.010"/> bloßen „Geschichtlichkeit“ der geworfenen Einzelexistenz ist wieder zur <lb n="pwe_024.011"/> Geschichte selbst vorzudringen. Ein Neuaufbau der höheren geschichtlichen <lb n="pwe_024.012"/> Einheiten wird erfolgen müssen, sowahr dieser Neubau auch in den übrigen <lb n="pwe_024.013"/> Bereichen des menschlichen Lebens erstrebt wird. Als negativer Anstoß <lb n="pwe_024.014"/> dazu wird wirken, daß die traditionellen Ordnungsprinzipien der <lb n="pwe_024.015"/> nationalen Literaturhistorien nicht nur auf Grund politischer Erfahrungen, <lb n="pwe_024.016"/> sondern im Lauf der Forschung selbst zweifelhaft geworden sind. Positiv <lb n="pwe_024.017"/> aber die Einsicht, daß die Literatur <hi rendition="#i">eine</hi> ist, Weltliteratur ist und mindestens <lb n="pwe_024.018"/> europäische Literatur nicht nur eine Idee, sondern eine konkrete <lb n="pwe_024.019"/> geschichtliche Wirklichkeit bedeutet. Die beiden Aspekte des Kunstwerks, <lb n="pwe_024.020"/> seinen unerklärlichen Ursprung und sein Angewiesensein auf die soziale <lb n="pwe_024.021"/> Welt und auf seinen geschichtlichen Traditionszusammenhang, seinen <lb n="pwe_024.022"/> Werk- und seinen Wirkungscharakter zusammenzusehen als Dauer und <lb n="pwe_024.023"/> Wechsel, Sein und Werden zugleich, das ist höchste einheitliche Aufgabe <lb n="pwe_024.024"/> der Literaturwissenschaft.</p> <lb n="pwe_024.025"/> <p> In diesem Sinne bedeutet auch die folgende Einteilung der Probleme bloß <lb n="pwe_024.026"/> die Entfaltung einer einzigen Literaturwissenschaft nach verschiedenen <lb n="pwe_024.027"/> Aspekten, die aber zusammengehören, so wie beim Menschen Leib, Seele <lb n="pwe_024.028"/> und Leben zusammengehören.</p> <lb n="pwe_024.029"/> <p> Literaturwissenschaft ist <hi rendition="#i">erstens</hi> bewahrender und rettender Dienst am <lb n="pwe_024.030"/> konkreten Text, d. h. Philologie im engeren Sinne von <hi rendition="#i">Textkritik</hi> und <lb n="pwe_024.031"/> <hi rendition="#i">Editionstechnik</hi> (II).</p> <lb n="pwe_024.032"/> <p> Sie ist <hi rendition="#i">zweitens</hi> Wissenschaft von der Entstehungs- und Seinsweise, von <lb n="pwe_024.033"/> den Strukturen und Erscheinungsformen des dichterischen Werks, d. h. <lb n="pwe_024.034"/> <hi rendition="#i">Poetik</hi> (III).</p> <lb n="pwe_024.035"/> <p> Sie ist <hi rendition="#i">drittens</hi> Wissenschaft von den Zusammenhängen der Werke unter sich, <lb n="pwe_024.036"/> von ihrer zeitlichen und räumlichen Gruppierung, d. h. <hi rendition="#i">Literarhistorie</hi> (V).</p> <lb n="pwe_024.037"/> <p> Zwischen das dritte und fünfte Kapitel stellen wir die Betrachtungsweisen, <lb n="pwe_024.038"/> die das Werk auf seine persönlichen und kollektiv-<hi rendition="#i">seelischen</hi> und <lb n="pwe_024.039"/> <hi rendition="#i">sozialen</hi> Funktionen hin erkennen und damit teilweise über den Rahmen <lb n="pwe_024.040"/> der Literaturwissenschaft im strengen Sinne hinausführen, aber auch, da <lb n="pwe_024.041"/> sie den Träger der Dichtung, den Menschen, ins Auge fassen, sowohl die </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0030]
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getreten ist, so ist damit das Problem einer historischen „Synthese“ pwe_024.002
keinswegs überholt. Gewiß sind Begriffe wie Fortschritt oder Entwicklung pwe_024.003
für die Literaturgeschichte fragwürdig geworden; die geschilderten Wandlungen pwe_024.004
im Bild des Menschen, die neue Fassung des Begriffs der Zeit und pwe_024.005
die Relativierung des Bewußtseins lassen keine schön konstruierte „Geistesgeschichte“ pwe_024.006
mehr zu. Aber die Existenz eines höheren Zusammenhangs, zu pwe_024.007
welchem sich die dichterischen Werke in zeitlichen Verläufen und zusammengehörigen pwe_024.008
Gruppen vereinigen, ist damit nicht widerlegt; die geschichtliche pwe_024.009
Dimension des Einzelwerks selbst ist nicht zu übersehen. Von der pwe_024.010
bloßen „Geschichtlichkeit“ der geworfenen Einzelexistenz ist wieder zur pwe_024.011
Geschichte selbst vorzudringen. Ein Neuaufbau der höheren geschichtlichen pwe_024.012
Einheiten wird erfolgen müssen, sowahr dieser Neubau auch in den übrigen pwe_024.013
Bereichen des menschlichen Lebens erstrebt wird. Als negativer Anstoß pwe_024.014
dazu wird wirken, daß die traditionellen Ordnungsprinzipien der pwe_024.015
nationalen Literaturhistorien nicht nur auf Grund politischer Erfahrungen, pwe_024.016
sondern im Lauf der Forschung selbst zweifelhaft geworden sind. Positiv pwe_024.017
aber die Einsicht, daß die Literatur eine ist, Weltliteratur ist und mindestens pwe_024.018
europäische Literatur nicht nur eine Idee, sondern eine konkrete pwe_024.019
geschichtliche Wirklichkeit bedeutet. Die beiden Aspekte des Kunstwerks, pwe_024.020
seinen unerklärlichen Ursprung und sein Angewiesensein auf die soziale pwe_024.021
Welt und auf seinen geschichtlichen Traditionszusammenhang, seinen pwe_024.022
Werk- und seinen Wirkungscharakter zusammenzusehen als Dauer und pwe_024.023
Wechsel, Sein und Werden zugleich, das ist höchste einheitliche Aufgabe pwe_024.024
der Literaturwissenschaft.
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In diesem Sinne bedeutet auch die folgende Einteilung der Probleme bloß pwe_024.026
die Entfaltung einer einzigen Literaturwissenschaft nach verschiedenen pwe_024.027
Aspekten, die aber zusammengehören, so wie beim Menschen Leib, Seele pwe_024.028
und Leben zusammengehören.
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Literaturwissenschaft ist erstens bewahrender und rettender Dienst am pwe_024.030
konkreten Text, d. h. Philologie im engeren Sinne von Textkritik und pwe_024.031
Editionstechnik (II).
pwe_024.032
Sie ist zweitens Wissenschaft von der Entstehungs- und Seinsweise, von pwe_024.033
den Strukturen und Erscheinungsformen des dichterischen Werks, d. h. pwe_024.034
Poetik (III).
pwe_024.035
Sie ist drittens Wissenschaft von den Zusammenhängen der Werke unter sich, pwe_024.036
von ihrer zeitlichen und räumlichen Gruppierung, d. h. Literarhistorie (V).
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Zwischen das dritte und fünfte Kapitel stellen wir die Betrachtungsweisen, pwe_024.038
die das Werk auf seine persönlichen und kollektiv-seelischen und pwe_024.039
sozialen Funktionen hin erkennen und damit teilweise über den Rahmen pwe_024.040
der Literaturwissenschaft im strengen Sinne hinausführen, aber auch, da pwe_024.041
sie den Träger der Dichtung, den Menschen, ins Auge fassen, sowohl die
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