Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_111.001 Strenge Stilkritik versteht sich aber kaum je als Formalismus, sondern pwe_111.004 1 pwe_111.039 Edgar Hederer, Mystik und Lyrik. München und Berlin 1941. 2 pwe_111.040
Frederick A. Pottle, The Idiom of Poetry, 2nd edition, Ithaca N. Y. 1946. pwe_111.001 Strenge Stilkritik versteht sich aber kaum je als Formalismus, sondern pwe_111.004 1 pwe_111.039 Edgar Hederer, Mystik und Lyrik. München und Berlin 1941. 2 pwe_111.040
Frederick A. Pottle, The Idiom of Poetry, 2nd edition, Ithaca N. Y. 1946. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0117" n="111"/><lb n="pwe_111.001"/> die „außerästhetischen“ d. h. inhaltlichen Faktoren der Wertung <lb n="pwe_111.002"/> zur Geltung zu bringen.</p> <lb n="pwe_111.003"/> <p> Strenge Stilkritik versteht sich aber kaum je als Formalismus, sondern <lb n="pwe_111.004"/> will im Gegenteil meistens ein Kunstwerk im Hinblick auf die Gesamtheit <lb n="pwe_111.005"/> der menschlichen Existenz auffassen (vgl. z. <hi rendition="#k">B. Th. Spoerri,</hi> <hi rendition="#i">Die Formwerdung <lb n="pwe_111.006"/> des Menschen).</hi> Unstimmigkeit, Spannungen zwischen ästhetischen <lb n="pwe_111.007"/> und außerästhetischen Belangen würden sich bei einer tieferen Fassung des <lb n="pwe_111.008"/> Begriffs „Stil“ im Werk selbst nachweisen lassen, mit andern Worten: das <lb n="pwe_111.009"/> Schöne, das Wahre und das Gute müssen sich letztlich als Eines erweisen; das <lb n="pwe_111.010"/> ist ein unausgesprochenes Postulat der Stilkritik. Wie weit damit ein Begriff <lb n="pwe_111.011"/> wie Stil und Schönheit überspannt ist, bleibt allerdings noch offen. Es <lb n="pwe_111.012"/> bedeutet hiefür schon ein verdächtiges Indiz, daß der Begriff „reiner“ <lb n="pwe_111.013"/> Poesie gewöhnlich aus liedhafter Lyrik gewonnen wird und die Stilkritik <lb n="pwe_111.014"/> überhaupt wohl der Lyrik am glücklichsten begegnet. Die Divina Commedia <lb n="pwe_111.015"/> ist zwar keine „unreine“ Poesie, aber die Transzendenz des Werkes ins <lb n="pwe_111.016"/> Inhaltliche, ja Lehrmäßige ist hier so stark und die Spannung zwischen <lb n="pwe_111.017"/> sinnlich-dichterischer und übersinnlich-religiöser Welt hier so energisch, daß <lb n="pwe_111.018"/> Begriffe wie dichterische Reinheit oder Schönheit an Gewicht verlieren. <lb n="pwe_111.019"/> (Nur im Bereich der Mystik scheint eine Kongruenz dichterischer und religiöser <lb n="pwe_111.020"/> Aussage möglich – vgl. <hi rendition="#k">E. Hederer</hi><note xml:id="PWE_111_1" place="foot" n="1"><lb n="pwe_111.039"/> Edgar Hederer, <hi rendition="#i">Mystik und Lyrik.</hi> München und Berlin 1941.</note> –, auch wenn dann noch der <lb n="pwe_111.021"/> Unterschied zwischen mystischer Erleuchtung und Dichtung – „a motion <lb n="pwe_111.022"/> terminating in an arrangement of words on paper“, wie <hi rendition="#k">T. S. Eliot</hi> <lb n="pwe_111.023"/> sagt – nicht zu übersehen ist). Und dann zieht man gerne der Bezeichnung <lb n="pwe_111.024"/> „Schönheit“ die der „<hi rendition="#i">Größe</hi>“ vor, worunter auch der Schillersche <lb n="pwe_111.025"/> Begriff des „Erhabenen“ fallen würde. Der Gegensatz von Schönheit und <lb n="pwe_111.026"/> Größe in diesem Sinne kann nur auf die Unterscheidung ästhetisch-außerästhetisch <lb n="pwe_111.027"/> bezogen werden. Doch ist damit nicht mehr der Fall gemeint, <lb n="pwe_111.028"/> wo aus einem Werk eine inhaltliche Tendenz abstrahiert und gegen das <lb n="pwe_111.029"/> Werk wertend ausgespielt wird (etwa der von <hi rendition="#k">Kayser</hi> besprochene Streit <lb n="pwe_111.030"/> um den angeblich unmoralischen Ehebruchsroman von Madame Bovary); <lb n="pwe_111.031"/> hier steht im Grunde nicht Moral oder Glaube gegen Kunst, sondern ein <lb n="pwe_111.032"/> alter Stil gegen einen neuen, wobei sich die Anwälte des alten Stils <lb n="pwe_111.033"/> werkfremde moralische Argumente borgen. Das betont auch <hi rendition="#k">Pottle</hi><note xml:id="PWE_111_2" place="foot" n="2"><lb n="pwe_111.040"/> Frederick A. Pottle, <hi rendition="#i">The Idiom of Poetry,</hi> 2<hi rendition="#sup">nd</hi> edition, Ithaca N. Y. 1946.</note> in <lb n="pwe_111.034"/> seinem wenig belangreichen Kapitel „The Moral Evaluation of Literature“. <lb n="pwe_111.035"/> Gemeint ist vielmehr die im Kunstwerk selbst sich ereignende Transzendenz <lb n="pwe_111.036"/> des Kunstwerks. So ist wohl auch der bei <hi rendition="#k">Wellek-Warren</hi> zitierte, scheinbar <lb n="pwe_111.037"/> paradoxe Ausspruch <hi rendition="#k">Eliots</hi> zu verstehen: The ,greatness‘ of literature <lb n="pwe_111.038"/> cannot be determined solely by literary standards, though we must remember, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [111/0117]
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die „außerästhetischen“ d. h. inhaltlichen Faktoren der Wertung pwe_111.002
zur Geltung zu bringen.
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Strenge Stilkritik versteht sich aber kaum je als Formalismus, sondern pwe_111.004
will im Gegenteil meistens ein Kunstwerk im Hinblick auf die Gesamtheit pwe_111.005
der menschlichen Existenz auffassen (vgl. z. B. Th. Spoerri, Die Formwerdung pwe_111.006
des Menschen). Unstimmigkeit, Spannungen zwischen ästhetischen pwe_111.007
und außerästhetischen Belangen würden sich bei einer tieferen Fassung des pwe_111.008
Begriffs „Stil“ im Werk selbst nachweisen lassen, mit andern Worten: das pwe_111.009
Schöne, das Wahre und das Gute müssen sich letztlich als Eines erweisen; das pwe_111.010
ist ein unausgesprochenes Postulat der Stilkritik. Wie weit damit ein Begriff pwe_111.011
wie Stil und Schönheit überspannt ist, bleibt allerdings noch offen. Es pwe_111.012
bedeutet hiefür schon ein verdächtiges Indiz, daß der Begriff „reiner“ pwe_111.013
Poesie gewöhnlich aus liedhafter Lyrik gewonnen wird und die Stilkritik pwe_111.014
überhaupt wohl der Lyrik am glücklichsten begegnet. Die Divina Commedia pwe_111.015
ist zwar keine „unreine“ Poesie, aber die Transzendenz des Werkes ins pwe_111.016
Inhaltliche, ja Lehrmäßige ist hier so stark und die Spannung zwischen pwe_111.017
sinnlich-dichterischer und übersinnlich-religiöser Welt hier so energisch, daß pwe_111.018
Begriffe wie dichterische Reinheit oder Schönheit an Gewicht verlieren. pwe_111.019
(Nur im Bereich der Mystik scheint eine Kongruenz dichterischer und religiöser pwe_111.020
Aussage möglich – vgl. E. Hederer 1 –, auch wenn dann noch der pwe_111.021
Unterschied zwischen mystischer Erleuchtung und Dichtung – „a motion pwe_111.022
terminating in an arrangement of words on paper“, wie T. S. Eliot pwe_111.023
sagt – nicht zu übersehen ist). Und dann zieht man gerne der Bezeichnung pwe_111.024
„Schönheit“ die der „Größe“ vor, worunter auch der Schillersche pwe_111.025
Begriff des „Erhabenen“ fallen würde. Der Gegensatz von Schönheit und pwe_111.026
Größe in diesem Sinne kann nur auf die Unterscheidung ästhetisch-außerästhetisch pwe_111.027
bezogen werden. Doch ist damit nicht mehr der Fall gemeint, pwe_111.028
wo aus einem Werk eine inhaltliche Tendenz abstrahiert und gegen das pwe_111.029
Werk wertend ausgespielt wird (etwa der von Kayser besprochene Streit pwe_111.030
um den angeblich unmoralischen Ehebruchsroman von Madame Bovary); pwe_111.031
hier steht im Grunde nicht Moral oder Glaube gegen Kunst, sondern ein pwe_111.032
alter Stil gegen einen neuen, wobei sich die Anwälte des alten Stils pwe_111.033
werkfremde moralische Argumente borgen. Das betont auch Pottle 2 in pwe_111.034
seinem wenig belangreichen Kapitel „The Moral Evaluation of Literature“. pwe_111.035
Gemeint ist vielmehr die im Kunstwerk selbst sich ereignende Transzendenz pwe_111.036
des Kunstwerks. So ist wohl auch der bei Wellek-Warren zitierte, scheinbar pwe_111.037
paradoxe Ausspruch Eliots zu verstehen: The ,greatness‘ of literature pwe_111.038
cannot be determined solely by literary standards, though we must remember,
1 pwe_111.039
Edgar Hederer, Mystik und Lyrik. München und Berlin 1941.
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Frederick A. Pottle, The Idiom of Poetry, 2nd edition, Ithaca N. Y. 1946.
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