Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903]. Alwa. Ich verbitte mir Ihre Unflätigkeiten! Der Junge ist im kleinen Finger mehr wert als Sie! Rodrigo. Ich habe an dieser Geschwitz schon Genossenschaft genug. Soll meine Braut eine Gesell- schaft mit beschränkter Haftpflicht werden, dann mag ein anderer vorangehen. Ich gedenke die pompöseste Luftgymnastikerin aus ihr zu machen und setze deshalb gerne meine Gesundheit aufs Spiel. Aber dann bin ich Herr im Hause und bezeichne selber die Kavaliere, die sie bei sich zu empfangen hat. Alwa. Der Junge hat das, was unserem Zeit- alter fehlt. Er ist eine Heldennatur. Er geht deshalb natürlich zu Grunde. Erinnern Sie sich, wie er vor Verkündigung des Urteils aus der Zeugenbank sprang und dem Vorsitzenden zurief: "Woher wollen Sie wissen, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie sich als zehn- jähriges Kind die Nächte barfuß hätten in den Cafes herumtreiben müssen?!" Rodrigo. Hätte ich ihm nur gleich Eine dafür in die Fresse hauen können! -- Gottlob gibt es Zwangs- erziehungsanstalten, in denen man solchem Pack Respekt vor dem Gesetz einflößt. Alwa. Er wäre so Einer, der mir im "Weltbeherrscher" Modell stehen könnte. Seit zwanzig Jahren bringt die dramatische Literatur nichts als Halbmenschen zustande; Männer, die keine Kinder machen und Weiber, die keine gebären können. Das nennt man "Modernes Problem". Wenn ich bedenke, mit welch traurigen Jammergestalten sich mein Jugendfreund die Ehre erkämpft hat, der größte deutsche Dichter zu sein, dann wird es mir schwer, ihn um seinen Lorbeer zu beneiden. Seine Helden be- gehen Selbstmord, weil sie im Lauf von fünf Akten nicht bis drei zählen lernen. Und dafür begeistert sich Alwa. Ich verbitte mir Ihre Unflätigkeiten! Der Junge iſt im kleinen Finger mehr wert als Sie! Rodrigo. Ich habe an dieſer Geſchwitz ſchon Genoſſenſchaft genug. Soll meine Braut eine Geſell- ſchaft mit beſchränkter Haftpflicht werden, dann mag ein anderer vorangehen. Ich gedenke die pompöſeſte Luftgymnaſtikerin aus ihr zu machen und ſetze deshalb gerne meine Geſundheit aufs Spiel. Aber dann bin ich Herr im Hauſe und bezeichne ſelber die Kavaliere, die ſie bei ſich zu empfangen hat. Alwa. Der Junge hat das, was unſerem Zeit- alter fehlt. Er iſt eine Heldennatur. Er geht deshalb natürlich zu Grunde. Erinnern Sie ſich, wie er vor Verkündigung des Urteils aus der Zeugenbank ſprang und dem Vorſitzenden zurief: „Woher wollen Sie wiſſen, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie ſich als zehn- jähriges Kind die Nächte barfuß hätten in den Cafés herumtreiben müſſen?!“ Rodrigo. Hätte ich ihm nur gleich Eine dafür in die Freſſe hauen können! — Gottlob gibt es Zwangs- erziehungsanſtalten, in denen man ſolchem Pack Reſpekt vor dem Geſetz einflößt. Alwa. Er wäre ſo Einer, der mir im „Weltbeherrſcher“ Modell ſtehen könnte. Seit zwanzig Jahren bringt die dramatiſche Literatur nichts als Halbmenſchen zuſtande; Männer, die keine Kinder machen und Weiber, die keine gebären können. Das nennt man „Modernes Problem“. Wenn ich bedenke, mit welch traurigen Jammergeſtalten ſich mein Jugendfreund die Ehre erkämpft hat, der größte deutſche Dichter zu ſein, dann wird es mir ſchwer, ihn um ſeinen Lorbeer zu beneiden. Seine Helden be- gehen Selbſtmord, weil ſie im Lauf von fünf Akten nicht bis drei zählen lernen. Und dafür begeiſtert ſich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0028" n="20"/> <sp who="#ALW"> <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker> <p>Ich verbitte mir Ihre Unflätigkeiten! Der<lb/> Junge iſt im kleinen Finger mehr wert als Sie!</p> </sp><lb/> <sp who="#ROD"> <speaker><hi rendition="#g">Rodrigo</hi>.</speaker> <p>Ich habe an dieſer Geſchwitz ſchon<lb/> Genoſſenſchaft genug. Soll meine Braut eine Geſell-<lb/> ſchaft mit beſchränkter Haftpflicht werden, dann mag<lb/> ein anderer vorangehen. 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Alwa. Ich verbitte mir Ihre Unflätigkeiten! Der
Junge iſt im kleinen Finger mehr wert als Sie!
Rodrigo. Ich habe an dieſer Geſchwitz ſchon
Genoſſenſchaft genug. Soll meine Braut eine Geſell-
ſchaft mit beſchränkter Haftpflicht werden, dann mag
ein anderer vorangehen. Ich gedenke die pompöſeſte
Luftgymnaſtikerin aus ihr zu machen und ſetze deshalb
gerne meine Geſundheit aufs Spiel. Aber dann bin ich
Herr im Hauſe und bezeichne ſelber die Kavaliere, die
ſie bei ſich zu empfangen hat.
Alwa. Der Junge hat das, was unſerem Zeit-
alter fehlt. Er iſt eine Heldennatur. Er geht deshalb
natürlich zu Grunde. Erinnern Sie ſich, wie er vor
Verkündigung des Urteils aus der Zeugenbank ſprang und
dem Vorſitzenden zurief: „Woher wollen Sie wiſſen,
was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie ſich als zehn-
jähriges Kind die Nächte barfuß hätten in den Cafés
herumtreiben müſſen?!“
Rodrigo. Hätte ich ihm nur gleich Eine dafür
in die Freſſe hauen können! — Gottlob gibt es Zwangs-
erziehungsanſtalten, in denen man ſolchem Pack Reſpekt
vor dem Geſetz einflößt.
Alwa. Er wäre ſo Einer, der mir im „Weltbeherrſcher“
Modell ſtehen könnte. Seit zwanzig Jahren bringt die
dramatiſche Literatur nichts als Halbmenſchen zuſtande;
Männer, die keine Kinder machen und Weiber, die keine
gebären können. Das nennt man „Modernes Problem“.
Wenn ich bedenke, mit welch traurigen Jammergeſtalten
ſich mein Jugendfreund die Ehre erkämpft hat, der
größte deutſche Dichter zu ſein, dann wird es mir ſchwer,
ihn um ſeinen Lorbeer zu beneiden. Seine Helden be-
gehen Selbſtmord, weil ſie im Lauf von fünf Akten
nicht bis drei zählen lernen. Und dafür begeiſtert ſich
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