Da es nun die Menschenliebe erfordert, sich eines verlassenen leidenden Geschöpfs anzunehmen, und dasselbe zu retten, so habe ich Lenchens Vor- mund zuförderst die Augen geöffnet, und er hat eingesehen, daß es in der Pflicht und Macht eines Vormunds liegt, seine Mündelin nicht mehr in den Händen einer Mutter zu lassen, die ihre Ju- gend zur Hölle macht und sie hinopfert. Wir sind übereingekommen, daß er mir Lenchen überlassen und mit Jhnen ausmachen will, wieviel Sie für ihren nöthigen Unterricht und für ihre Kleidung zahlen sollen -- für die Kost verlange ich nichts. Wollten Sie das nicht gutwillig eingehen, so wür- de er die Sache an das Pupillen-Collegium mel- den, und sein Sie versichert, daß dieses sich einer vaterlosen Waise annehmen wird, die unverschulde- ter Weise von einer ungerechten Mutter und de- ren Liebling, einem kleinen Bösewicht, gepeinigt wird.
Das, was meine Mutter bei dem Jnhalt die- ses Briefes empfand, war ein Gemisch von Wuth, Trotz, Beschämung und Freude, ihre Tochter los zu seyn. Sie war begierig zu lesen, was der Vor- mund ihr schreiben würde, da es ihr ganz uner- wartet war, daß er, der sie für eine Flasche Wein, ein Gebackenes, einige Pfunde Kaffee und Zucker,
und
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Da es nun die Menſchenliebe erfordert, ſich eines verlaſſenen leidenden Geſchoͤpfs anzunehmen, und daſſelbe zu retten, ſo habe ich Lenchens Vor- mund zufoͤrderſt die Augen geoͤffnet, und er hat eingeſehen, daß es in der Pflicht und Macht eines Vormunds liegt, ſeine Muͤndelin nicht mehr in den Haͤnden einer Mutter zu laſſen, die ihre Ju- gend zur Hoͤlle macht und ſie hinopfert. Wir ſind uͤbereingekommen, daß er mir Lenchen uͤberlaſſen und mit Jhnen ausmachen will, wieviel Sie fuͤr ihren noͤthigen Unterricht und fuͤr ihre Kleidung zahlen ſollen — fuͤr die Koſt verlange ich nichts. Wollten Sie das nicht gutwillig eingehen, ſo wuͤr- de er die Sache an das Pupillen-Collegium mel- den, und ſein Sie verſichert, daß dieſes ſich einer vaterloſen Waiſe annehmen wird, die unverſchulde- ter Weiſe von einer ungerechten Mutter und de- ren Liebling, einem kleinen Boͤſewicht, gepeinigt wird.
Das, was meine Mutter bei dem Jnhalt die- ſes Briefes empfand, war ein Gemiſch von Wuth, Trotz, Beſchaͤmung und Freude, ihre Tochter los zu ſeyn. Sie war begierig zu leſen, was der Vor- mund ihr ſchreiben wuͤrde, da es ihr ganz uner- wartet war, daß er, der ſie fuͤr eine Flaſche Wein, ein Gebackenes, einige Pfunde Kaffee und Zucker,
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Da es nun die Menſchenliebe erfordert, ſich
eines verlaſſenen leidenden Geſchoͤpfs anzunehmen,
und daſſelbe zu retten, ſo habe ich Lenchens Vor-
mund zufoͤrderſt die Augen geoͤffnet, und er hat
eingeſehen, daß es in der Pflicht und Macht eines
Vormunds liegt, ſeine Muͤndelin nicht mehr in
den Haͤnden einer Mutter zu laſſen, die ihre Ju-
gend zur Hoͤlle macht und ſie hinopfert. Wir ſind
uͤbereingekommen, daß er mir Lenchen uͤberlaſſen
und mit Jhnen ausmachen will, wieviel Sie fuͤr
ihren noͤthigen Unterricht und fuͤr ihre Kleidung
zahlen ſollen — fuͤr die Koſt verlange ich nichts.
Wollten Sie das nicht gutwillig eingehen, ſo wuͤr-
de er die Sache an das Pupillen-Collegium mel-
den, und ſein Sie verſichert, daß dieſes ſich einer
vaterloſen Waiſe annehmen wird, die unverſchulde-
ter Weiſe von einer ungerechten Mutter und de-
ren Liebling, einem kleinen Boͤſewicht, gepeinigt
wird.
Das, was meine Mutter bei dem Jnhalt die-
ſes Briefes empfand, war ein Gemiſch von Wuth,
Trotz, Beſchaͤmung und Freude, ihre Tochter los
zu ſeyn. Sie war begierig zu leſen, was der Vor-
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Wallenrodt, Johanna Isabella Eleonore von: Fritz, der Mann wie er nicht seyn sollte oder die Folgen einer übeln Erziehung. Bd. 2. Gera, 1800, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wallenrodt_fritz02_1800/137>, abgerufen am 22.11.2024.
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