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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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Jch kenne die Ruhe nicht mehr, jenes göttliche
Schweigen der Seele, jenes befriedigte Anschau'n
der inneren Welt.

So lang ich hier bin, hab' ich noch nie in
meinem Homer gelesen. Jch bin ja geschieden von
dieser Welt voll Ruhe, voll Licht, voll Einheit.

Jch lese nichts mehr, als die griechischen Brie-
fe, die sie mir schreibt. Da glaub' ich oft ihre
Seele in einem Wort zu finden, schaue starr hin,
küsse das Wort, bis ich es nimmer sehe vor mei-
nen Thränen!

Bey Nacht, auf einsamen Wegen, durch öde,
verlassene Felder, da hab' ich meine Lust.

Jch sitze auf einem Berge. Da bin ich dann
allein. Kalte dunkle Schauer wehen um mich:
meine Seele antwortet in dumpfen verklingenden
Tönen. Das Weltgebäude betracht' ich dann.

Wenn ich ruhig bin, und in mir beseligt durch
den Geist der Gottheit, der in meiner Seele we-
bet, dann glaub' ich die Musik der Welten zu ver-
nehmen: ich glaube zu hören, wie sie sich schwin-
gen und klingen, in der ungemessenen Bahn!

Jch kenne die Ruhe nicht mehr, jenes goͤttliche
Schweigen der Seele, jenes befriedigte Anſchau’n
der inneren Welt.

So lang ich hier bin, hab’ ich noch nie in
meinem Homer geleſen. Jch bin ja geſchieden von
dieſer Welt voll Ruhe, voll Licht, voll Einheit.

Jch leſe nichts mehr, als die griechiſchen Brie-
fe, die ſie mir ſchreibt. Da glaub’ ich oft ihre
Seele in einem Wort zu finden, ſchaue ſtarr hin,
kuͤſſe das Wort, bis ich es nimmer ſehe vor mei-
nen Thraͤnen!

Bey Nacht, auf einſamen Wegen, durch oͤde,
verlaſſene Felder, da hab’ ich meine Luſt.

Jch ſitze auf einem Berge. Da bin ich dann
allein. Kalte dunkle Schauer wehen um mich:
meine Seele antwortet in dumpfen verklingenden
Toͤnen. Das Weltgebaͤude betracht’ ich dann.

Wenn ich ruhig bin, und in mir beſeligt durch
den Geiſt der Gottheit, der in meiner Seele we-
bet, dann glaub’ ich die Muſik der Welten zu ver-
nehmen: ich glaube zu hoͤren, wie ſie ſich ſchwin-
gen und klingen, in der ungemeſſenen Bahn!

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[105/0105] Jch kenne die Ruhe nicht mehr, jenes goͤttliche Schweigen der Seele, jenes befriedigte Anſchau’n der inneren Welt. So lang ich hier bin, hab’ ich noch nie in meinem Homer geleſen. Jch bin ja geſchieden von dieſer Welt voll Ruhe, voll Licht, voll Einheit. Jch leſe nichts mehr, als die griechiſchen Brie- fe, die ſie mir ſchreibt. Da glaub’ ich oft ihre Seele in einem Wort zu finden, ſchaue ſtarr hin, kuͤſſe das Wort, bis ich es nimmer ſehe vor mei- nen Thraͤnen! Bey Nacht, auf einſamen Wegen, durch oͤde, verlaſſene Felder, da hab’ ich meine Luſt. Jch ſitze auf einem Berge. Da bin ich dann allein. Kalte dunkle Schauer wehen um mich: meine Seele antwortet in dumpfen verklingenden Toͤnen. Das Weltgebaͤude betracht’ ich dann. Wenn ich ruhig bin, und in mir beſeligt durch den Geiſt der Gottheit, der in meiner Seele we- bet, dann glaub’ ich die Muſik der Welten zu ver- nehmen: ich glaube zu hoͤren, wie ſie ſich ſchwin- gen und klingen, in der ungemeſſenen Bahn!

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/105>, abgerufen am 28.04.2024.