O im Freyen ist mir so schmerzlich wohl. Und ist's nicht natürlich? Du reine, heilige Luft, du umsäuselst mich ja, Ewige, Endlose! Jn deinen Armen ruhet die Erde, wie der Säugling im Schooß der Mutter! Du küssest die jähen Riesen- stirnen einer Felswand, wie das bescheidene Blüm- chen, das um eine Quelle wanket. Du bist's, die tausendjähr'ge Eichenstämme mit starkem Arm an ihrer Krone faßt und aus der Wurzel die Gewalt'- gen wirbelt, du bist es, die in kindisch-heiter'm Spiel um eines Mädchens Locken, wie um eine volle Rose wehet, Mutter! Allliebende! Du kühlst mir, wie das Flüstern einer fernen Ahnung, oft die heiße Stirne, und legst dich schmeichelnd an meinen glühenden Busen. Nach dir dürsten alle Wesen, du Allernährende! Ach! und sie hast du lie- bend schon umfangen, als sie, ein harmlos lächelnd
Phaethon an Theodor.
O im Freyen iſt mir ſo ſchmerzlich wohl. Und iſt’s nicht natuͤrlich? Du reine, heilige Luft, du umſaͤuſelſt mich ja, Ewige, Endloſe! Jn deinen Armen ruhet die Erde, wie der Saͤugling im Schooß der Mutter! Du kuͤſſeſt die jaͤhen Rieſen- ſtirnen einer Felswand, wie das beſcheidene Bluͤm- chen, das um eine Quelle wanket. Du biſt’s, die tauſendjaͤhr’ge Eichenſtaͤmme mit ſtarkem Arm an ihrer Krone faßt und aus der Wurzel die Gewalt’- gen wirbelt, du biſt es, die in kindiſch-heiter’m Spiel um eines Maͤdchens Locken, wie um eine volle Roſe wehet, Mutter! Allliebende! Du kuͤhlſt mir, wie das Fluͤſtern einer fernen Ahnung, oft die heiße Stirne, und legſt dich ſchmeichelnd an meinen gluͤhenden Buſen. Nach dir duͤrſten alle Weſen, du Allernaͤhrende! Ach! und ſie haſt du lie- bend ſchon umfangen, als ſie, ein harmlos laͤchelnd
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Phaethon an Theodor.
O im Freyen iſt mir ſo ſchmerzlich wohl. Und
iſt’s nicht natuͤrlich? Du reine, heilige Luft, du
umſaͤuſelſt mich ja, Ewige, Endloſe! Jn deinen
Armen ruhet die Erde, wie der Saͤugling im
Schooß der Mutter! Du kuͤſſeſt die jaͤhen Rieſen-
ſtirnen einer Felswand, wie das beſcheidene Bluͤm-
chen, das um eine Quelle wanket. Du biſt’s, die
tauſendjaͤhr’ge Eichenſtaͤmme mit ſtarkem Arm an
ihrer Krone faßt und aus der Wurzel die Gewalt’-
gen wirbelt, du biſt es, die in kindiſch-heiter’m
Spiel um eines Maͤdchens Locken, wie um eine
volle Roſe wehet, Mutter! Allliebende! Du kuͤhlſt
mir, wie das Fluͤſtern einer fernen Ahnung, oft
die heiße Stirne, und legſt dich ſchmeichelnd an
meinen gluͤhenden Buſen. Nach dir duͤrſten alle
Weſen, du Allernaͤhrende! Ach! und ſie haſt du lie-
bend ſchon umfangen, als ſie, ein harmlos laͤchelnd
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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/96>, abgerufen am 16.02.2025.
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