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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.

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müsse sie sehen, rief er immer nur, wie schön, wie
liebenswürdig sie sey.

Und wie ich heute etwas spät nach Hause kam,
und durch's Dorf wandelte, und alles schon still
war, und ich an die große Linde kam, da tritt er
mir entgegen und hat sein Mädchen an der Hand.
Das ist sie, Phaeton! lispelt' er leise, wie der
Abendwind, der durch die Blätter der Linde säu-
selte. Die schöne kleine Blondine blickte verschämt
zur Erde und wollte seine Hand fahren lassen, aber
er hielt sie fest, und sie blickt' ihn jetzt so wunder-
bar an. O Theodor! ich habe noch nie die Liebe
so in einem Auge gesehen. Jch gab dem Mädchen
die Hand, sie nahm sie schüchtern, und ich sah,
wie sie die Hand des Geliebten ängstlicher und stär-
ker drückte. Wir blieben noch fast eine Stunde
unter der Linde sitzen. Lieber! o was ist all' un-
ser Treiben gegen eine solche Begeisterung? Du
hättest sie sehen sollen, wie sie da saßen, die Lie-
benden, Arm in Arm, und Eins dem Andern in
das nasse Auge blickte. -- Theodor! ich habe die
halbe Nacht durchweint.



3 *

muͤſſe ſie ſehen, rief er immer nur, wie ſchoͤn, wie
liebenswuͤrdig ſie ſey.

Und wie ich heute etwas ſpaͤt nach Hauſe kam,
und durch’s Dorf wandelte, und alles ſchon ſtill
war, und ich an die große Linde kam, da tritt er
mir entgegen und hat ſein Maͤdchen an der Hand.
Das iſt ſie, Phaeton! lispelt’ er leiſe, wie der
Abendwind, der durch die Blaͤtter der Linde ſaͤu-
ſelte. Die ſchoͤne kleine Blondine blickte verſchaͤmt
zur Erde und wollte ſeine Hand fahren laſſen, aber
er hielt ſie feſt, und ſie blickt’ ihn jetzt ſo wunder-
bar an. O Theodor! ich habe noch nie die Liebe
ſo in einem Auge geſehen. Jch gab dem Maͤdchen
die Hand, ſie nahm ſie ſchuͤchtern, und ich ſah,
wie ſie die Hand des Geliebten aͤngſtlicher und ſtaͤr-
ker druͤckte. Wir blieben noch faſt eine Stunde
unter der Linde ſitzen. Lieber! o was iſt all’ un-
ſer Treiben gegen eine ſolche Begeiſterung? Du
haͤtteſt ſie ſehen ſollen, wie ſie da ſaßen, die Lie-
benden, Arm in Arm, und Eins dem Andern in
das naſſe Auge blickte. — Theodor! ich habe die
halbe Nacht durchweint.



3 *
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[35/0045] muͤſſe ſie ſehen, rief er immer nur, wie ſchoͤn, wie liebenswuͤrdig ſie ſey. Und wie ich heute etwas ſpaͤt nach Hauſe kam, und durch’s Dorf wandelte, und alles ſchon ſtill war, und ich an die große Linde kam, da tritt er mir entgegen und hat ſein Maͤdchen an der Hand. Das iſt ſie, Phaeton! lispelt’ er leiſe, wie der Abendwind, der durch die Blaͤtter der Linde ſaͤu- ſelte. Die ſchoͤne kleine Blondine blickte verſchaͤmt zur Erde und wollte ſeine Hand fahren laſſen, aber er hielt ſie feſt, und ſie blickt’ ihn jetzt ſo wunder- bar an. O Theodor! ich habe noch nie die Liebe ſo in einem Auge geſehen. Jch gab dem Maͤdchen die Hand, ſie nahm ſie ſchuͤchtern, und ich ſah, wie ſie die Hand des Geliebten aͤngſtlicher und ſtaͤr- ker druͤckte. Wir blieben noch faſt eine Stunde unter der Linde ſitzen. Lieber! o was iſt all’ un- ſer Treiben gegen eine ſolche Begeiſterung? Du haͤtteſt ſie ſehen ſollen, wie ſie da ſaßen, die Lie- benden, Arm in Arm, und Eins dem Andern in das naſſe Auge blickte. — Theodor! ich habe die halbe Nacht durchweint. 3 *

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/45>, abgerufen am 25.04.2024.