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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.

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Phaethon an Theodor.

Jch wandelte gestern durchs Gebirge. Es ist ein
hohes männliches Gefühl, zu schreiten durch diese
alten Rieseneichen. Es scheint, als ob die Natur
diese gewalt'gen Stämme zum Beispiel für den Men-
schen schuf. Strecken sie sich nicht in die Lüfte,
wie Titanen, und wandelt der Mensch nicht, wie ein
Zwerg, unter diesen kühnen, ragenden Gewächsen?
Aber ach! auch die Eichen stehn nicht fest. Jch
stand an einem tiefen Geklüfte. Durch über einan-
der geworf'nes, starrendes Gestein und hohes Wald-
gebüsche schob tosend in dem Abgrund sich ein Gieß-
bach fort, rasch, unaufhaltsam, wie das Leben des
Menschen, und aus den Wurzeln vom Sturm ge-
riss'ne Eichenstämme lagen in wilder Zerstörung
über die Schlucht hin. Eine dunkle Masse schat-
tender Tannen hob sich in düstern Gruppen an dem
Abgrund, und eine gewalt'ge Felswand ragte drü-
ber hinaus, wie die finst're Stirne eines alten Got-
tes. Da dacht' ich mir den Titanen Prometheus
an die graue ungeheure Felsenwand geschmiedet, und

Phaethon an Theodor.

Jch wandelte geſtern durchs Gebirge. Es iſt ein
hohes maͤnnliches Gefuͤhl, zu ſchreiten durch dieſe
alten Rieſeneichen. Es ſcheint, als ob die Natur
dieſe gewalt’gen Staͤmme zum Beiſpiel fuͤr den Men-
ſchen ſchuf. Strecken ſie ſich nicht in die Luͤfte,
wie Titanen, und wandelt der Menſch nicht, wie ein
Zwerg, unter dieſen kuͤhnen, ragenden Gewaͤchſen?
Aber ach! auch die Eichen ſtehn nicht feſt. Jch
ſtand an einem tiefen Gekluͤfte. Durch uͤber einan-
der geworf’nes, ſtarrendes Geſtein und hohes Wald-
gebuͤſche ſchob toſend in dem Abgrund ſich ein Gieß-
bach fort, raſch, unaufhaltſam, wie das Leben des
Menſchen, und aus den Wurzeln vom Sturm ge-
riſſ’ne Eichenſtaͤmme lagen in wilder Zerſtoͤrung
uͤber die Schlucht hin. Eine dunkle Maſſe ſchat-
tender Tannen hob ſich in duͤſtern Gruppen an dem
Abgrund, und eine gewalt’ge Felswand ragte druͤ-
ber hinaus, wie die finſt’re Stirne eines alten Got-
tes. Da dacht’ ich mir den Titanen Prometheus
an die graue ungeheure Felſenwand geſchmiedet, und

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[16/0026] Phaethon an Theodor. Jch wandelte geſtern durchs Gebirge. Es iſt ein hohes maͤnnliches Gefuͤhl, zu ſchreiten durch dieſe alten Rieſeneichen. Es ſcheint, als ob die Natur dieſe gewalt’gen Staͤmme zum Beiſpiel fuͤr den Men- ſchen ſchuf. Strecken ſie ſich nicht in die Luͤfte, wie Titanen, und wandelt der Menſch nicht, wie ein Zwerg, unter dieſen kuͤhnen, ragenden Gewaͤchſen? Aber ach! auch die Eichen ſtehn nicht feſt. Jch ſtand an einem tiefen Gekluͤfte. Durch uͤber einan- der geworf’nes, ſtarrendes Geſtein und hohes Wald- gebuͤſche ſchob toſend in dem Abgrund ſich ein Gieß- bach fort, raſch, unaufhaltſam, wie das Leben des Menſchen, und aus den Wurzeln vom Sturm ge- riſſ’ne Eichenſtaͤmme lagen in wilder Zerſtoͤrung uͤber die Schlucht hin. Eine dunkle Maſſe ſchat- tender Tannen hob ſich in duͤſtern Gruppen an dem Abgrund, und eine gewalt’ge Felswand ragte druͤ- ber hinaus, wie die finſt’re Stirne eines alten Got- tes. Da dacht’ ich mir den Titanen Prometheus an die graue ungeheure Felſenwand geſchmiedet, und

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/26>, abgerufen am 24.04.2024.