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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.

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Phaethon an Theodor.

Dein Bruder ist jetzt abgereist. Mir ward der
Abschied schwer von dem Guten, der, wie mein
Schatten, mir durch's sonnige Jtalien folgte. Ewig
unvergeßlich, wie meiner Kindheit Tage, ist mir
der Abend, wo wir zum erstenmal die Alpenfirnen,
wie Trümmer einer Urwelt, glänzen sah'n, und,
gleich gebändigten Titanen, die Nebelwolken unten
lagen im Thale, und oben die milchweissen Stirnen
vom Purpur der Abendsonne glühten, wie beschei-
dene Mädchenwangen, und die Riesenlawinen don-
nernd von jähen, fürchterlichen Höh'n herab sich
wälzten, wir uns im Arme lagen, und bey Tells
und Arnolds Vaterland uns ew'ge Freundschaft
schwuren.

Und als wir giengen auf den sieben Hügeln,
und wandelten zwischen den schaurigen Gestalten der
hohen Vorwelt, und sah'n, wie um die alten dü-
stern Mauern sich der jugendliche Epheu rankte --
als wir sassen an den Ufern der blonden Tiber, und

1 *


Phaethon an Theodor.

Dein Bruder iſt jetzt abgereist. Mir ward der
Abſchied ſchwer von dem Guten, der, wie mein
Schatten, mir durch’s ſonnige Jtalien folgte. Ewig
unvergeßlich, wie meiner Kindheit Tage, iſt mir
der Abend, wo wir zum erſtenmal die Alpenfirnen,
wie Truͤmmer einer Urwelt, glaͤnzen ſah’n, und,
gleich gebaͤndigten Titanen, die Nebelwolken unten
lagen im Thale, und oben die milchweiſſen Stirnen
vom Purpur der Abendſonne gluͤhten, wie beſchei-
dene Maͤdchenwangen, und die Rieſenlawinen don-
nernd von jaͤhen, fuͤrchterlichen Hoͤh’n herab ſich
waͤlzten, wir uns im Arme lagen, und bey Tells
und Arnolds Vaterland uns ew’ge Freundſchaft
ſchwuren.

Und als wir giengen auf den ſieben Huͤgeln,
und wandelten zwiſchen den ſchaurigen Geſtalten der
hohen Vorwelt, und ſah’n, wie um die alten duͤ-
ſtern Mauern ſich der jugendliche Epheu rankte —
als wir ſaſſen an den Ufern der blonden Tiber, und

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[0013] Phaethon an Theodor. Dein Bruder iſt jetzt abgereist. Mir ward der Abſchied ſchwer von dem Guten, der, wie mein Schatten, mir durch’s ſonnige Jtalien folgte. Ewig unvergeßlich, wie meiner Kindheit Tage, iſt mir der Abend, wo wir zum erſtenmal die Alpenfirnen, wie Truͤmmer einer Urwelt, glaͤnzen ſah’n, und, gleich gebaͤndigten Titanen, die Nebelwolken unten lagen im Thale, und oben die milchweiſſen Stirnen vom Purpur der Abendſonne gluͤhten, wie beſchei- dene Maͤdchenwangen, und die Rieſenlawinen don- nernd von jaͤhen, fuͤrchterlichen Hoͤh’n herab ſich waͤlzten, wir uns im Arme lagen, und bey Tells und Arnolds Vaterland uns ew’ge Freundſchaft ſchwuren. Und als wir giengen auf den ſieben Huͤgeln, und wandelten zwiſchen den ſchaurigen Geſtalten der hohen Vorwelt, und ſah’n, wie um die alten duͤ- ſtern Mauern ſich der jugendliche Epheu rankte — als wir ſaſſen an den Ufern der blonden Tiber, und 1 *

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/13>, abgerufen am 29.03.2024.