Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite

mögen des Menschen: nicht an den sinnlich bestimmten Be¬
wegungen des Leibes, nicht an der strengen Folge des Den¬
kens vermag es sich zu spiegeln, -- nicht wie der Gedanke
an der erkannten Nothwendigkeit der sinnlichen Erschei¬
nungswelt, nicht wie die Leibesbewegung an der zeitlich
wahrnehmbaren Darstellung ihrer unwillkürlichen, sinnlich
wohlbedingten Beschaffenheit, sein Maß sich vorzustellen:
sie ist wie eine dem Menschen wahrnehmbare, nicht aber
begreifliche Naturmacht. Aus ihrem eigenen maßlosen
Grunde muß die Harmonie sich, aus äußerer -- nicht
innerer -- Nothwendigkeit zu sicherer, endlicher Erschei¬
nung sich abzuschließen, Gesetze bilden und befolgen. Diese
Gesetze der Harmoniefolge, auf das Wesen der Verwandt¬
schaft so gegründet, wie jene harmonischen Säulen, die
Accorde, selbst aus der Verwandtschaft der Tonstoffe sich
bildeten vereinigen sich nun zu einem Maße, welches dem
ungeheuren Spielraum willkürlicher Möglichkeiten eine
wohlthätige Schranke setzt. Sie gestatten die mannigfal¬
tigste Wahl aus dem Bereiche harmonischer Familien,
dehnen die Möglichkeit wahlverwandtschaftlicher Verbin¬
dungen mit den Gliedern fremder Familien bis zum Be¬
lieben aus, verlangen jedoch vor Allem sichere Befolgung
der verwandtschaftlichen Hausgesetze der einmal gewählten
Familie und getreues Verharren bei ihr um eines seligen
Endes willen. Dieses Ende, also das Maß der zeitlichen

mögen des Menſchen: nicht an den ſinnlich beſtimmten Be¬
wegungen des Leibes, nicht an der ſtrengen Folge des Den¬
kens vermag es ſich zu ſpiegeln, — nicht wie der Gedanke
an der erkannten Nothwendigkeit der ſinnlichen Erſchei¬
nungswelt, nicht wie die Leibesbewegung an der zeitlich
wahrnehmbaren Darſtellung ihrer unwillkürlichen, ſinnlich
wohlbedingten Beſchaffenheit, ſein Maß ſich vorzuſtellen:
ſie iſt wie eine dem Menſchen wahrnehmbare, nicht aber
begreifliche Naturmacht. Aus ihrem eigenen maßloſen
Grunde muß die Harmonie ſich, aus äußerer — nicht
innerer — Nothwendigkeit zu ſicherer, endlicher Erſchei¬
nung ſich abzuſchließen, Geſetze bilden und befolgen. Dieſe
Geſetze der Harmoniefolge, auf das Weſen der Verwandt¬
ſchaft ſo gegründet, wie jene harmoniſchen Säulen, die
Accorde, ſelbſt aus der Verwandtſchaft der Tonſtoffe ſich
bildeten vereinigen ſich nun zu einem Maße, welches dem
ungeheuren Spielraum willkürlicher Möglichkeiten eine
wohlthätige Schranke ſetzt. Sie geſtatten die mannigfal¬
tigſte Wahl aus dem Bereiche harmoniſcher Familien,
dehnen die Möglichkeit wahlverwandtſchaftlicher Verbin¬
dungen mit den Gliedern fremder Familien bis zum Be¬
lieben aus, verlangen jedoch vor Allem ſichere Befolgung
der verwandtſchaftlichen Hausgeſetze der einmal gewählten
Familie und getreues Verharren bei ihr um eines ſeligen
Endes willen. Dieſes Ende, alſo das Maß der zeitlichen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0094" n="78"/>
mögen des Men&#x017F;chen: nicht an den &#x017F;innlich be&#x017F;timmten Be¬<lb/>
wegungen des Leibes, nicht an der &#x017F;trengen Folge des Den¬<lb/>
kens vermag es &#x017F;ich zu &#x017F;piegeln, &#x2014; nicht wie der Gedanke<lb/>
an der erkannten Nothwendigkeit der &#x017F;innlichen Er&#x017F;chei¬<lb/>
nungswelt, nicht wie die Leibesbewegung an der zeitlich<lb/>
wahrnehmbaren Dar&#x017F;tellung ihrer unwillkürlichen, &#x017F;innlich<lb/>
wohlbedingten Be&#x017F;chaffenheit, &#x017F;ein Maß &#x017F;ich vorzu&#x017F;tellen:<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t wie eine dem Men&#x017F;chen wahrnehmbare, nicht aber<lb/>
begreifliche Naturmacht. Aus ihrem eigenen maßlo&#x017F;en<lb/>
Grunde muß die Harmonie &#x017F;ich, aus äußerer &#x2014; nicht<lb/>
innerer &#x2014; Nothwendigkeit zu &#x017F;icherer, endlicher Er&#x017F;chei¬<lb/>
nung &#x017F;ich abzu&#x017F;chließen, Ge&#x017F;etze bilden und befolgen. Die&#x017F;e<lb/>
Ge&#x017F;etze der Harmoniefolge, auf das We&#x017F;en der Verwandt¬<lb/>
&#x017F;chaft &#x017F;o gegründet, wie jene harmoni&#x017F;chen Säulen, die<lb/>
Accorde, &#x017F;elb&#x017F;t aus der Verwandt&#x017F;chaft der Ton&#x017F;toffe &#x017F;ich<lb/>
bildeten vereinigen &#x017F;ich nun zu einem Maße, welches dem<lb/>
ungeheuren Spielraum willkürlicher Möglichkeiten eine<lb/>
wohlthätige Schranke &#x017F;etzt. Sie ge&#x017F;tatten die mannigfal¬<lb/>
tig&#x017F;te Wahl aus dem Bereiche harmoni&#x017F;cher Familien,<lb/>
dehnen die Möglichkeit wahlverwandt&#x017F;chaftlicher Verbin¬<lb/>
dungen mit den Gliedern fremder Familien bis zum Be¬<lb/>
lieben aus, verlangen jedoch vor Allem &#x017F;ichere Befolgung<lb/>
der verwandt&#x017F;chaftlichen Hausge&#x017F;etze der einmal gewählten<lb/>
Familie und getreues Verharren bei ihr um eines &#x017F;eligen<lb/>
Endes willen. Die&#x017F;es Ende, al&#x017F;o das Maß der zeitlichen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0094] mögen des Menſchen: nicht an den ſinnlich beſtimmten Be¬ wegungen des Leibes, nicht an der ſtrengen Folge des Den¬ kens vermag es ſich zu ſpiegeln, — nicht wie der Gedanke an der erkannten Nothwendigkeit der ſinnlichen Erſchei¬ nungswelt, nicht wie die Leibesbewegung an der zeitlich wahrnehmbaren Darſtellung ihrer unwillkürlichen, ſinnlich wohlbedingten Beſchaffenheit, ſein Maß ſich vorzuſtellen: ſie iſt wie eine dem Menſchen wahrnehmbare, nicht aber begreifliche Naturmacht. Aus ihrem eigenen maßloſen Grunde muß die Harmonie ſich, aus äußerer — nicht innerer — Nothwendigkeit zu ſicherer, endlicher Erſchei¬ nung ſich abzuſchließen, Geſetze bilden und befolgen. Dieſe Geſetze der Harmoniefolge, auf das Weſen der Verwandt¬ ſchaft ſo gegründet, wie jene harmoniſchen Säulen, die Accorde, ſelbſt aus der Verwandtſchaft der Tonſtoffe ſich bildeten vereinigen ſich nun zu einem Maße, welches dem ungeheuren Spielraum willkürlicher Möglichkeiten eine wohlthätige Schranke ſetzt. Sie geſtatten die mannigfal¬ tigſte Wahl aus dem Bereiche harmoniſcher Familien, dehnen die Möglichkeit wahlverwandtſchaftlicher Verbin¬ dungen mit den Gliedern fremder Familien bis zum Be¬ lieben aus, verlangen jedoch vor Allem ſichere Befolgung der verwandtſchaftlichen Hausgeſetze der einmal gewählten Familie und getreues Verharren bei ihr um eines ſeligen Endes willen. Dieſes Ende, alſo das Maß der zeitlichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/94
Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/94>, abgerufen am 09.05.2024.