Durch dieses aufrichtigste, gegenseitige Durchdringen, Erzeugen und Ergänzen aus sich selbst und durch einander, der einzelnen Künste -- wie es in Bezug auf Ton- und Dichtkunst hier vorläufig nur angedeutet wurde, -- wird das einige Kunstwerk der Lyrik geboren: in ihm ist jede was sie ihrer Natur nach sein kann; was sie nicht mehr zu sein vermag entlehnt sie nicht egoistisch von der andren, sondern die andre ist es selbst für sie. Im Drama der vollendetsten Gestaltung der Lyrik, entfaltet jede der einzel¬ nen Künste aber ihre höchste Fähigkeit, und namentlich auch die Tanzkunst. Im Drama ist sich der Mensch nach seiner vollsten Würde künstlerischer Stoff und Gegenstand zugleich: hat die Tanzkunst in ihm die ausdrucksvolle Ein¬ zel- oder Gesammtbewegung der von den Einzelnen oder von den Gesammten kundzugebenden Empfindungen, un¬ mittelbar darzustellen, und ist das aus ihr erzeugte Gesetz des Rhythmus das verständigungleitende Maß alles in ihm Dargestellten überhaupt, -- so veredelt sie sich im Drama zugleich zu ihrem geistigsten Ausdrucksvermögen, dem der Mimik. Als mimische Kunst wird sie zum unmittelbaren, allergreifenden Ausdrucke des inneren Menschen, und nicht mehr der rohsinnliche Rhythmus des Schalles, sondern der geistig sinnliche der Sprache stellt sich ihr als, seinem ur¬ sprünglichsten Wesen nach, dennoch selbstgegebenes Gesetz dar. Was die Sprache zu verständlichen strebt, alle die Empfin¬
Durch dieſes aufrichtigſte, gegenſeitige Durchdringen, Erzeugen und Ergänzen aus ſich ſelbſt und durch einander, der einzelnen Künſte — wie es in Bezug auf Ton- und Dichtkunſt hier vorläufig nur angedeutet wurde, — wird das einige Kunſtwerk der Lyrik geboren: in ihm iſt jede was ſie ihrer Natur nach ſein kann; was ſie nicht mehr zu ſein vermag entlehnt ſie nicht egoiſtiſch von der andren, ſondern die andre iſt es ſelbſt für ſie. Im Drama der vollendetſten Geſtaltung der Lyrik, entfaltet jede der einzel¬ nen Künſte aber ihre höchſte Fähigkeit, und namentlich auch die Tanzkunſt. Im Drama iſt ſich der Menſch nach ſeiner vollſten Würde künſtleriſcher Stoff und Gegenſtand zugleich: hat die Tanzkunſt in ihm die ausdrucksvolle Ein¬ zel- oder Geſammtbewegung der von den Einzelnen oder von den Geſammten kundzugebenden Empfindungen, un¬ mittelbar darzuſtellen, und iſt das aus ihr erzeugte Geſetz des Rhythmus das verſtändigungleitende Maß alles in ihm Dargeſtellten überhaupt, — ſo veredelt ſie ſich im Drama zugleich zu ihrem geiſtigſten Ausdrucksvermögen, dem der Mimik. Als mimiſche Kunſt wird ſie zum unmittelbaren, allergreifenden Ausdrucke des inneren Menſchen, und nicht mehr der rohſinnliche Rhythmus des Schalles, ſondern der geiſtig ſinnliche der Sprache ſtellt ſich ihr als, ſeinem ur¬ ſprünglichſten Weſen nach, dennoch ſelbſtgegebenes Geſetz dar. Was die Sprache zu verſtändlichen ſtrebt, alle die Empfin¬
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Durch dieſes aufrichtigſte, gegenſeitige Durchdringen,
Erzeugen und Ergänzen aus ſich ſelbſt und durch einander,
der einzelnen Künſte — wie es in Bezug auf Ton- und
Dichtkunſt hier vorläufig nur angedeutet wurde, — wird
das einige Kunſtwerk der Lyrik geboren: in ihm iſt
jede was ſie ihrer Natur nach ſein kann; was ſie nicht mehr
zu ſein vermag entlehnt ſie nicht egoiſtiſch von der andren,
ſondern die andre iſt es ſelbſt für ſie. Im Drama der
vollendetſten Geſtaltung der Lyrik, entfaltet jede der einzel¬
nen Künſte aber ihre höchſte Fähigkeit, und namentlich
auch die Tanzkunſt. Im Drama iſt ſich der Menſch nach
ſeiner vollſten Würde künſtleriſcher Stoff und Gegenſtand
zugleich: hat die Tanzkunſt in ihm die ausdrucksvolle Ein¬
zel- oder Geſammtbewegung der von den Einzelnen oder
von den Geſammten kundzugebenden Empfindungen, un¬
mittelbar darzuſtellen, und iſt das aus ihr erzeugte Geſetz
des Rhythmus das verſtändigungleitende Maß alles in ihm
Dargeſtellten überhaupt, — ſo veredelt ſie ſich im Drama
zugleich zu ihrem geiſtigſten Ausdrucksvermögen, dem der
Mimik. Als mimiſche Kunſt wird ſie zum unmittelbaren,
allergreifenden Ausdrucke des inneren Menſchen, und nicht
mehr der rohſinnliche Rhythmus des Schalles, ſondern der
geiſtig ſinnliche der Sprache ſtellt ſich ihr als, ſeinem ur¬
ſprünglichſten Weſen nach, dennoch ſelbſtgegebenes Geſetz dar.
Was die Sprache zu verſtändlichen ſtrebt, alle die Empfin¬
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/73>, abgerufen am 16.02.2025.
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