Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht füglich gedacht werden kann. Huldigt der Mensch im
vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er seinen
eigenen lebendigen Leib schön, und freut er sich dieser an
ihm selbst kundgegebenen Schönheit, so ist Gegenstand und
künstlerischer Stoff der Darstellung dieser Schönheit und
der Freude an ihr, unzweifelhaft der vollkommene, warme,
lebendige Mensch selbst: sein Kunstwerk ist das Drama,
und die Erlösung der Plastik ist genau die der Entzau¬
berung des Steines in das Fleisch und Blut des
Menschen
, aus dem Bewegungslosen in die
Bewegung
, aus dem Monumentalen in das
Gegenwärtige
. Erst wenn der Drang des künstlerischen
Bildhauers in die Seele des Tänzers, des mimischen
Darstellers
, des singenden und sprechenden, übergegangen
ist, kann dieser Drang als wirklich gestillt gedacht werden.
Erst wenn die Bildhauerkunst nicht mehr existirt, oder nach
einer anderen, als der menschlich leiblichen Richtung hin
-- als Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn
die starre Einsamkeit dieses einen, in Stein gehauenen
Menschen in die unendlich strömende Vielheit der lebendi¬
gen wirklichen Menschen sich aufgelöst haben wird; wenn
wir die Erinnerung an geliebte Todte in ewig neu lebendem,
seelenvollem Fleisch und Blut, nicht wiederum in todtem
Erz oder Marmor uns vorführen; wenn wir aus dem
Stein uns die Bauwerke zur Einhegung des lebendigen

8

nicht füglich gedacht werden kann. Huldigt der Menſch im
vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er ſeinen
eigenen lebendigen Leib ſchön, und freut er ſich dieſer an
ihm ſelbſt kundgegebenen Schönheit, ſo iſt Gegenſtand und
künſtleriſcher Stoff der Darſtellung dieſer Schönheit und
der Freude an ihr, unzweifelhaft der vollkommene, warme,
lebendige Menſch ſelbſt: ſein Kunſtwerk iſt das Drama,
und die Erlöſung der Plaſtik iſt genau die der Entzau¬
berung des Steines in das Fleiſch und Blut des
Menſchen
, aus dem Bewegungsloſen in die
Bewegung
, aus dem Monumentalen in das
Gegenwärtige
. Erſt wenn der Drang des künſtleriſchen
Bildhauers in die Seele des Tänzers, des mimiſchen
Darſtellers
, des ſingenden und ſprechenden, übergegangen
iſt, kann dieſer Drang als wirklich geſtillt gedacht werden.
Erſt wenn die Bildhauerkunſt nicht mehr exiſtirt, oder nach
einer anderen, als der menſchlich leiblichen Richtung hin
— als Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn
die ſtarre Einſamkeit dieſes einen, in Stein gehauenen
Menſchen in die unendlich ſtrömende Vielheit der lebendi¬
gen wirklichen Menſchen ſich aufgelöſt haben wird; wenn
wir die Erinnerung an geliebte Todte in ewig neu lebendem,
ſeelenvollem Fleiſch und Blut, nicht wiederum in todtem
Erz oder Marmor uns vorführen; wenn wir aus dem
Stein uns die Bauwerke zur Einhegung des lebendigen

8
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0185" n="169"/>
nicht füglich gedacht werden kann. Huldigt der Men&#x017F;ch im<lb/>
vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er &#x017F;einen<lb/>
eigenen lebendigen Leib &#x017F;chön, und freut er &#x017F;ich die&#x017F;er an<lb/>
ihm &#x017F;elb&#x017F;t kundgegebenen Schönheit, &#x017F;o i&#x017F;t Gegen&#x017F;tand und<lb/>
kün&#x017F;tleri&#x017F;cher Stoff der Dar&#x017F;tellung die&#x017F;er Schönheit und<lb/>
der Freude an ihr, unzweifelhaft der vollkommene, warme,<lb/><hi rendition="#g">lebendige Men&#x017F;ch</hi> &#x017F;elb&#x017F;t: &#x017F;ein Kun&#x017F;twerk i&#x017F;t das <hi rendition="#g">Drama</hi>,<lb/>
und die Erlö&#x017F;ung der Pla&#x017F;tik i&#x017F;t genau die der <hi rendition="#g">Entzau</hi>¬<lb/><hi rendition="#g">berung des Steines in das Flei&#x017F;ch und Blut des<lb/>
Men&#x017F;chen</hi>, <hi rendition="#g">aus dem Bewegungslo&#x017F;en in die<lb/>
Bewegung</hi>, <hi rendition="#g">aus dem Monumentalen in das<lb/>
Gegenwärtige</hi>. Er&#x017F;t wenn der Drang des kün&#x017F;tleri&#x017F;chen<lb/>
Bildhauers in die Seele des <hi rendition="#g">Tänzers</hi>, des <hi rendition="#g">mimi&#x017F;chen<lb/>
Dar&#x017F;tellers</hi>, des &#x017F;ingenden und &#x017F;prechenden, übergegangen<lb/>
i&#x017F;t, kann die&#x017F;er Drang als wirklich ge&#x017F;tillt gedacht werden.<lb/>
Er&#x017F;t wenn die Bildhauerkun&#x017F;t nicht mehr exi&#x017F;tirt, oder nach<lb/>
einer anderen, als der men&#x017F;chlich leiblichen Richtung hin<lb/>
&#x2014; als Skulptur in die <hi rendition="#g">Architektur</hi> aufgegangen, wenn<lb/>
die &#x017F;tarre Ein&#x017F;amkeit die&#x017F;es <hi rendition="#g">einen</hi>, in Stein gehauenen<lb/>
Men&#x017F;chen in die unendlich &#x017F;trömende Vielheit der lebendi¬<lb/>
gen wirklichen Men&#x017F;chen &#x017F;ich aufgelö&#x017F;t haben wird; wenn<lb/>
wir die Erinnerung an geliebte Todte in ewig neu lebendem,<lb/>
&#x017F;eelenvollem Flei&#x017F;ch und Blut, nicht wiederum in todtem<lb/>
Erz oder Marmor uns vorführen; wenn wir aus dem<lb/>
Stein uns die Bauwerke zur Einhegung des lebendigen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">8<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169/0185] nicht füglich gedacht werden kann. Huldigt der Menſch im vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er ſeinen eigenen lebendigen Leib ſchön, und freut er ſich dieſer an ihm ſelbſt kundgegebenen Schönheit, ſo iſt Gegenſtand und künſtleriſcher Stoff der Darſtellung dieſer Schönheit und der Freude an ihr, unzweifelhaft der vollkommene, warme, lebendige Menſch ſelbſt: ſein Kunſtwerk iſt das Drama, und die Erlöſung der Plaſtik iſt genau die der Entzau¬ berung des Steines in das Fleiſch und Blut des Menſchen, aus dem Bewegungsloſen in die Bewegung, aus dem Monumentalen in das Gegenwärtige. Erſt wenn der Drang des künſtleriſchen Bildhauers in die Seele des Tänzers, des mimiſchen Darſtellers, des ſingenden und ſprechenden, übergegangen iſt, kann dieſer Drang als wirklich geſtillt gedacht werden. Erſt wenn die Bildhauerkunſt nicht mehr exiſtirt, oder nach einer anderen, als der menſchlich leiblichen Richtung hin — als Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn die ſtarre Einſamkeit dieſes einen, in Stein gehauenen Menſchen in die unendlich ſtrömende Vielheit der lebendi¬ gen wirklichen Menſchen ſich aufgelöſt haben wird; wenn wir die Erinnerung an geliebte Todte in ewig neu lebendem, ſeelenvollem Fleiſch und Blut, nicht wiederum in todtem Erz oder Marmor uns vorführen; wenn wir aus dem Stein uns die Bauwerke zur Einhegung des lebendigen 8

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/185
Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/185>, abgerufen am 03.12.2024.