kalt, wie eine versteinerte Erinnerung, wie die Mumie des Griechenthums. -- Diese Kunst, im Solde der Reichen zur Verzierung der Palläste, gewann um so leichter eine ungemeine Ausbreitung, als das künstlerische Schaffen in ihr sehr bald zur bloßen mechanischen Arbeit herabsinken konnte. Der Gegenstand der Bildhauerei ist allerdings der Mensch, der unendlich mannigfaltige, charakteristisch ver¬ schiedene und in den verschiedensten Affekten sich kund¬ gebende: aber den Stoff zu seiner Darstellung nimmt diese Kunst von der sinnlichen Außengestalt, aus der immer nur die Hülle, nicht der Kern des menschlichen Wesens zu entnehmen ist. Wohl giebt sich der innere Mensch auf das Entsprechendste auch durch seine äußere Erscheinung kund, aber vollkommen nur in und durch die Bewegung. Der Bildhauer kann von dieser Bewegung aus ihrem mannig¬ faltigsten Wechsel nur diesen einen Moment erfassen und wiedergeben, die eigentliche Bewegung somit nur durch Ab¬ straction von dem sinnlich vorstehenden Kunstwerke nach einem gewissen, mathematisch vergleichenden Kalkül errathen lassen. War das richtigste und entsprechend sicherste Ver¬ fahren, um aus dieser Armuth und Unbehülflichkeit heraus zur Darstellung wirklichen Lebens zu gelangen, einmal ge¬ funden, -- war dem natürlichen Stoffe einmal das voll¬ endete Maß der menschlichen äußeren Erscheinung -- ein¬ gebildet und ihm die Fähigkeit, dieses überzeugend uns zu¬
kalt, wie eine verſteinerte Erinnerung, wie die Mumie des Griechenthums. — Dieſe Kunſt, im Solde der Reichen zur Verzierung der Palläſte, gewann um ſo leichter eine ungemeine Ausbreitung, als das künſtleriſche Schaffen in ihr ſehr bald zur bloßen mechaniſchen Arbeit herabſinken konnte. Der Gegenſtand der Bildhauerei iſt allerdings der Menſch, der unendlich mannigfaltige, charakteriſtiſch ver¬ ſchiedene und in den verſchiedenſten Affekten ſich kund¬ gebende: aber den Stoff zu ſeiner Darſtellung nimmt dieſe Kunſt von der ſinnlichen Außengeſtalt, aus der immer nur die Hülle, nicht der Kern des menſchlichen Weſens zu entnehmen iſt. Wohl giebt ſich der innere Menſch auf das Entſprechendſte auch durch ſeine äußere Erſcheinung kund, aber vollkommen nur in und durch die Bewegung. Der Bildhauer kann von dieſer Bewegung aus ihrem mannig¬ faltigſten Wechſel nur dieſen einen Moment erfaſſen und wiedergeben, die eigentliche Bewegung ſomit nur durch Ab¬ ſtraction von dem ſinnlich vorſtehenden Kunſtwerke nach einem gewiſſen, mathematiſch vergleichenden Kalkül errathen laſſen. War das richtigſte und entſprechend ſicherſte Ver¬ fahren, um aus dieſer Armuth und Unbehülflichkeit heraus zur Darſtellung wirklichen Lebens zu gelangen, einmal ge¬ funden, — war dem natürlichen Stoffe einmal das voll¬ endete Maß der menſchlichen äußeren Erſcheinung — ein¬ gebildet und ihm die Fähigkeit, dieſes überzeugend uns zu¬
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kalt, wie eine verſteinerte Erinnerung, wie die Mumie
des Griechenthums. — Dieſe Kunſt, im Solde der
Reichen zur Verzierung der Palläſte, gewann um ſo leichter
eine ungemeine Ausbreitung, als das künſtleriſche Schaffen
in ihr ſehr bald zur bloßen mechaniſchen Arbeit herabſinken
konnte. Der Gegenſtand der Bildhauerei iſt allerdings der
Menſch, der unendlich mannigfaltige, charakteriſtiſch ver¬
ſchiedene und in den verſchiedenſten Affekten ſich kund¬
gebende: aber den Stoff zu ſeiner Darſtellung nimmt dieſe
Kunſt von der ſinnlichen Außengeſtalt, aus der immer
nur die Hülle, nicht der Kern des menſchlichen Weſens zu
entnehmen iſt. Wohl giebt ſich der innere Menſch auf
das Entſprechendſte auch durch ſeine äußere Erſcheinung
kund, aber vollkommen nur in und durch die Bewegung.
Der Bildhauer kann von dieſer Bewegung aus ihrem mannig¬
faltigſten Wechſel nur dieſen einen Moment erfaſſen und
wiedergeben, die eigentliche Bewegung ſomit nur durch Ab¬
ſtraction von dem ſinnlich vorſtehenden Kunſtwerke nach einem
gewiſſen, mathematiſch vergleichenden Kalkül errathen
laſſen. War das richtigſte und entſprechend ſicherſte Ver¬
fahren, um aus dieſer Armuth und Unbehülflichkeit heraus
zur Darſtellung wirklichen Lebens zu gelangen, einmal ge¬
funden, — war dem natürlichen Stoffe einmal das voll¬
endete Maß der menſchlichen äußeren Erſcheinung — ein¬
gebildet und ihm die Fähigkeit, dieſes überzeugend uns zu¬
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/180>, abgerufen am 24.07.2024.
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