Chore des Volkes herausschreitend, und schilderte nicht mehr, wie im Epos, die Thaten der Helden, sondern stellte sie selbst als dieser Held dar.
Bei dem Volke ist Alles Wirklichkeit und That; es handelt, und freut sich dann im Denken seines Handelns: So jagte das heitre Volk von Athen die trübsinnigen Söhne des kunstsinnigen Peisistratos bei einer hitzigen Veranlassung zu Hof und Stadt hinaus und bedachte dann, wie es bei dieser Gelegenheit ein sich selbst gehörendes, freies Volk geworden sei; so stellte es die Bretter der Bühne auf, schmückte als Tragöd sich mit Gewand und Maske eines Gottes oder Helden, um selbst Gott oder Held zu sein, und die Tragödie war erschaffen, deren Blüthe es mit wonnigem Bewußtsein von seiner Schöpferkraft ge¬ noß, deren metaphysischen Grund aufzusuchen es aber der kopfzerbrecherischen Spekulation unserer heutigen Hof¬ theaterdramaturgen rücksichtslos genug allein überließ.
Die Blüthe der Tragödie dauerte genau so lange, als sie aus dem Geiste des Volke heraus gedichtet wurde und dieser Geist eben ein wirklicher Volksgeist, nämlich ein gemeinsamer, war. Als die nationale Volksgenossenschaft sich selbst zersplitterte, als das gemeinsame Band ihrer Religion und ureigenen Sitte von den sophistischen Nadel¬ stichen des egoistisch sich zersetzenden athenischen Geistes zerstochen und zerstückt wurde, -- da hörte auch das Volks¬
Chore des Volkes herausſchreitend, und ſchilderte nicht mehr, wie im Epos, die Thaten der Helden, ſondern ſtellte ſie ſelbſt als dieſer Held dar.
Bei dem Volke iſt Alles Wirklichkeit und That; es handelt, und freut ſich dann im Denken ſeines Handelns: So jagte das heitre Volk von Athen die trübſinnigen Söhne des kunſtſinnigen Peiſiſtratos bei einer hitzigen Veranlaſſung zu Hof und Stadt hinaus und bedachte dann, wie es bei dieſer Gelegenheit ein ſich ſelbſt gehörendes, freies Volk geworden ſei; ſo ſtellte es die Bretter der Bühne auf, ſchmückte als Tragöd ſich mit Gewand und Maske eines Gottes oder Helden, um ſelbſt Gott oder Held zu ſein, und die Tragödie war erſchaffen, deren Blüthe es mit wonnigem Bewußtſein von ſeiner Schöpferkraft ge¬ noß, deren metaphyſiſchen Grund aufzuſuchen es aber der kopfzerbrecheriſchen Spekulation unſerer heutigen Hof¬ theaterdramaturgen rückſichtslos genug allein überließ.
Die Blüthe der Tragödie dauerte genau ſo lange, als ſie aus dem Geiſte des Volke heraus gedichtet wurde und dieſer Geiſt eben ein wirklicher Volksgeiſt, nämlich ein gemeinſamer, war. Als die nationale Volksgenoſſenſchaft ſich ſelbſt zerſplitterte, als das gemeinſame Band ihrer Religion und ureigenen Sitte von den ſophiſtiſchen Nadel¬ ſtichen des egoiſtiſch ſich zerſetzenden atheniſchen Geiſtes zerſtochen und zerſtückt wurde, — da hörte auch das Volks¬
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Chore des Volkes herausſchreitend, und ſchilderte nicht
mehr, wie im Epos, die Thaten der Helden, ſondern
ſtellte ſie ſelbſt als dieſer Held dar.
Bei dem Volke iſt Alles Wirklichkeit und That; es
handelt, und freut ſich dann im Denken ſeines Handelns:
So jagte das heitre Volk von Athen die trübſinnigen
Söhne des kunſtſinnigen Peiſiſtratos bei einer hitzigen
Veranlaſſung zu Hof und Stadt hinaus und bedachte dann,
wie es bei dieſer Gelegenheit ein ſich ſelbſt gehörendes,
freies Volk geworden ſei; ſo ſtellte es die Bretter der
Bühne auf, ſchmückte als Tragöd ſich mit Gewand und
Maske eines Gottes oder Helden, um ſelbſt Gott oder Held
zu ſein, und die Tragödie war erſchaffen, deren Blüthe
es mit wonnigem Bewußtſein von ſeiner Schöpferkraft ge¬
noß, deren metaphyſiſchen Grund aufzuſuchen es aber der
kopfzerbrecheriſchen Spekulation unſerer heutigen Hof¬
theaterdramaturgen rückſichtslos genug allein überließ.
Die Blüthe der Tragödie dauerte genau ſo lange, als
ſie aus dem Geiſte des Volke heraus gedichtet wurde und
dieſer Geiſt eben ein wirklicher Volksgeiſt, nämlich ein
gemeinſamer, war. Als die nationale Volksgenoſſenſchaft
ſich ſelbſt zerſplitterte, als das gemeinſame Band ihrer
Religion und ureigenen Sitte von den ſophiſtiſchen Nadel¬
ſtichen des egoiſtiſch ſich zerſetzenden atheniſchen Geiſtes
zerſtochen und zerſtückt wurde, — da hörte auch das Volks¬
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/124>, abgerufen am 22.07.2024.
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