Wagner, Heinrich Leopold: Die Kindermörderinn. Leipzig, 1776. Fr. Marthan. Behüt und bewahre! da käm sie ja ins Tollhaus! -- weiß sie was, Jung- fer -- Evchen. Spricht sie mit mir, Frau Marthan? Fr. Marthan. Mit wem sonst? -- Soll ich sie etwa nit Jungfer heißen? Kurios! -- gehn so viele vornehme und geringe in der Stadt herum, die schon drey, vier so Puppelchen in der Kost ha- ben, thäten einem die Augen auskratzen, oder gar einen Jurienprozeß an Hals hängen, wenn man sie nit hinten und vornen Jungfern hieß! -- Jch glaub aber, Gott verzeih mirs, sie ist gar nit wie ander Leut. -- Was geschehn ist, ist geschehn, da hilft kein Greinen und kein Jammern! und ein Kind, so denk ich, ist doch immer besser als ein Kalb: -- kann sie nicht gleich wieder einen Platz als Stubenmädchen bekommen, so will ich sie als Säugamm rekummediren -- Evchen. Hätt ich Milch für den Wurm! Fr. Marthan. Wie ists möglich? wo soll sie herkommen? seit den fünf Wochen, daß sie bey mir ist, hat sie, Gott verzeih mirs! glaub ich, ein Ohm Wasser zu den Augen heraus geweint; und dar- nach, wenn man nichts ißt und trinkt -- ich will doch wärli nit hoffen, daß es ihr etwa nit gut genug ist? -- wer's Geringe nit will, ists Gute nit werth: -- gelt! den Teller voll Fleischsuppe, den ich ihr vorgestern Abends hinstellte, weil ich gestern im Taglohn wäschen mußt, warum hat sie ihn nicht gewärmt und gegessen? Gott weiß, ich hab G 3
Fr. Marthan. Behuͤt und bewahre! da kaͤm ſie ja ins Tollhaus! — weiß ſie was, Jung- fer — Evchen. Spricht ſie mit mir, Frau Marthan? Fr. Marthan. Mit wem ſonſt? — Soll ich ſie etwa nit Jungfer heißen? Kurios! — gehn ſo viele vornehme und geringe in der Stadt herum, die ſchon drey, vier ſo Puppelchen in der Koſt ha- ben, thaͤten einem die Augen auskratzen, oder gar einen Jurienprozeß an Hals haͤngen, wenn man ſie nit hinten und vornen Jungfern hieß! — Jch glaub aber, Gott verzeih mirs, ſie iſt gar nit wie ander Leut. — Was geſchehn iſt, iſt geſchehn, da hilft kein Greinen und kein Jammern! und ein Kind, ſo denk ich, iſt doch immer beſſer als ein Kalb: — kann ſie nicht gleich wieder einen Platz als Stubenmaͤdchen bekommen, ſo will ich ſie als Saͤugamm rekummediren — Evchen. Haͤtt ich Milch fuͤr den Wurm! Fr. Marthan. Wie iſts moͤglich? wo ſoll ſie herkommen? ſeit den fuͤnf Wochen, daß ſie bey mir iſt, hat ſie, Gott verzeih mirs! glaub ich, ein Ohm Waſſer zu den Augen heraus geweint; und dar- nach, wenn man nichts ißt und trinkt — ich will doch waͤrli nit hoffen, daß es ihr etwa nit gut genug iſt? — wer’s Geringe nit will, iſts Gute nit werth: — gelt! den Teller voll Fleiſchſuppe, den ich ihr vorgeſtern Abends hinſtellte, weil ich geſtern im Taglohn waͤſchen mußt, warum hat ſie ihn nicht gewaͤrmt und gegeſſen? Gott weiß, ich hab G 3
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Fr. Marthan. Behuͤt und bewahre! da kaͤm
ſie ja ins Tollhaus! — weiß ſie was, Jung-
fer —
Evchen. Spricht ſie mit mir, Frau Marthan?
Fr. Marthan. Mit wem ſonſt? — Soll ich
ſie etwa nit Jungfer heißen? Kurios! — gehn
ſo viele vornehme und geringe in der Stadt herum,
die ſchon drey, vier ſo Puppelchen in der Koſt ha-
ben, thaͤten einem die Augen auskratzen, oder gar
einen Jurienprozeß an Hals haͤngen, wenn man
ſie nit hinten und vornen Jungfern hieß! — Jch
glaub aber, Gott verzeih mirs, ſie iſt gar nit wie
ander Leut. — Was geſchehn iſt, iſt geſchehn,
da hilft kein Greinen und kein Jammern! und ein
Kind, ſo denk ich, iſt doch immer beſſer als ein
Kalb: — kann ſie nicht gleich wieder einen Platz
als Stubenmaͤdchen bekommen, ſo will ich ſie als
Saͤugamm rekummediren —
Evchen. Haͤtt ich Milch fuͤr den Wurm!
Fr. Marthan. Wie iſts moͤglich? wo ſoll ſie
herkommen? ſeit den fuͤnf Wochen, daß ſie bey mir
iſt, hat ſie, Gott verzeih mirs! glaub ich, ein Ohm
Waſſer zu den Augen heraus geweint; und dar-
nach, wenn man nichts ißt und trinkt — ich will
doch waͤrli nit hoffen, daß es ihr etwa nit gut
genug iſt? — wer’s Geringe nit will, iſts Gute
nit werth: — gelt! den Teller voll Fleiſchſuppe,
den ich ihr vorgeſtern Abends hinſtellte, weil ich
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