Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_076.001 pwa_076.017 pwa_076.023 pwa_076.035 pwa_076.001 pwa_076.017 pwa_076.023 pwa_076.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0094" n="76"/><lb n="pwa_076.001"/> Lieder, denen man folgte, und die man umdichtete. In diesen fand <lb n="pwa_076.002"/> man die grösste Einfachheit der Anschauung, die knappeste Beengung <lb n="pwa_076.003"/> des Stoffes. Obschon man nun im neuen Epos die Grenzen nach <lb n="pwa_076.004"/> allen Seiten hin in die reichste Mannigfaltigkeit ausdehnte, so wollte <lb n="pwa_076.005"/> man doch wenigstens den Anschein der Einfachheit und der Beschränkung <lb n="pwa_076.006"/> bewahren, und so vernehmen wir denn z. B. in der Odyssee <lb n="pwa_076.007"/> den einen Theil von Odysseus Irrfahrten aus dem Munde des Dichters, <lb n="pwa_076.008"/> den andern und grösseren Theil aber episodisch durch vier <lb n="pwa_076.009"/> Bücher hindurch aus dem Munde des Odysseus selbst, und im Nibelungenliede <lb n="pwa_076.010"/> werden erst gelegentlich, erst Str. 88 fgg. durch Hagen <lb n="pwa_076.011"/> Siegfrieds Kämpfe mit dem Lindwurm und mit den alten Herren des <lb n="pwa_076.012"/> Hortes erzählt und die Leser in die Jugendgeschichte zurückgeführt, <lb n="pwa_076.013"/> nachdem Siegfried schon als Mann aufgetreten: indem so, was eigentlich <lb n="pwa_076.014"/> der Anfang der dargestellten Sagenreihe ist, in die Mitte eingefügt <lb n="pwa_076.015"/> wird, gewinnt das Ganze den Anschein grösserer Gedrungenheit <lb n="pwa_076.016"/> und Abrundung, sieht concentrierter, einfacher, einheitlicher aus.</p> <p><lb n="pwa_076.017"/> Durch solche Mittel und auf solchen Wegen erwuchsen die genannten <lb n="pwa_076.018"/> Epopöien alle aus dem überlieferten Vorrath epischer Stoffe und <lb n="pwa_076.019"/> epischer Dichtungen: sonst aber bestehn unter ihnen die merklichsten <lb n="pwa_076.020"/> Unterschiede, und der Sammler und Umdichter der einen hat nicht <lb n="pwa_076.021"/> das gleiche Mass künstlerischen Bewusstseins und freithätiger Geschicklichkeit <lb n="pwa_076.022"/> besessen als die der andern.</p> <p><lb n="pwa_076.023"/> Den untersten Rang möchte die Iliade einnehmen. Ihr gebricht <lb n="pwa_076.024"/> am meisten die rechte Einheit der Idee und des Inhaltes: all die <lb n="pwa_076.025"/> hohen Schönheiten, womit sie Jeden gefangen nimmt, sind doch nur <lb n="pwa_076.026"/> Schönheiten einzelner Glieder, nicht aber des ganzen Körpers, der <lb n="pwa_076.027"/> aus diesen Gliedern zusammengesetzt worden. Der Beginn kündigt <lb n="pwa_076.028"/> Achilleus als den Helden der Dichtung an: alsbald jedoch tritt er <lb n="pwa_076.029"/> und sein Zorn in den Hintergrund, um erst gegen das Ende hin wieder <lb n="pwa_076.030"/> von Bedeutung zu werden; mitten inne aber ist, nur mit vorübergehenden <lb n="pwa_076.031"/> Rückblicken auf ihn, überhaupt von dem thatenreichen Kampfe <lb n="pwa_076.032"/> die Rede, den Ilios und Griechenland nach den von Zeus gewogenen <lb n="pwa_076.033"/> Loosen gegen einander bestehn. Daher auch der altherkömmliche <lb n="pwa_076.034"/> Name Ilias, nicht Achilleis.</p> <p><lb n="pwa_076.035"/> Auf die Autorität der Iliade hin hat Fr. Schlegel behauptet, ein <lb n="pwa_076.036"/> rechtes Epos müsse überall anfangen und überall schliessen; und wiederum <lb n="pwa_076.037"/> nach ihr hat A. W. von Schlegel das Wesen der epischen <lb n="pwa_076.038"/> Dichtung darin gesucht, dass sie einem Relief gleiche, dessen Figurenreihe <lb n="pwa_076.039"/> ohne alle Gruppierung hinter einander fortlaufe, und mehr <lb n="pwa_076.040"/> nach Zufall oder Willkür beginne und ende als nach innerer Nothwendigkeit. <lb n="pwa_076.041"/> Zugegeben, dass ein gutes Relief so planlos gearbeitet </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [76/0094]
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Lieder, denen man folgte, und die man umdichtete. In diesen fand pwa_076.002
man die grösste Einfachheit der Anschauung, die knappeste Beengung pwa_076.003
des Stoffes. Obschon man nun im neuen Epos die Grenzen nach pwa_076.004
allen Seiten hin in die reichste Mannigfaltigkeit ausdehnte, so wollte pwa_076.005
man doch wenigstens den Anschein der Einfachheit und der Beschränkung pwa_076.006
bewahren, und so vernehmen wir denn z. B. in der Odyssee pwa_076.007
den einen Theil von Odysseus Irrfahrten aus dem Munde des Dichters, pwa_076.008
den andern und grösseren Theil aber episodisch durch vier pwa_076.009
Bücher hindurch aus dem Munde des Odysseus selbst, und im Nibelungenliede pwa_076.010
werden erst gelegentlich, erst Str. 88 fgg. durch Hagen pwa_076.011
Siegfrieds Kämpfe mit dem Lindwurm und mit den alten Herren des pwa_076.012
Hortes erzählt und die Leser in die Jugendgeschichte zurückgeführt, pwa_076.013
nachdem Siegfried schon als Mann aufgetreten: indem so, was eigentlich pwa_076.014
der Anfang der dargestellten Sagenreihe ist, in die Mitte eingefügt pwa_076.015
wird, gewinnt das Ganze den Anschein grösserer Gedrungenheit pwa_076.016
und Abrundung, sieht concentrierter, einfacher, einheitlicher aus.
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Durch solche Mittel und auf solchen Wegen erwuchsen die genannten pwa_076.018
Epopöien alle aus dem überlieferten Vorrath epischer Stoffe und pwa_076.019
epischer Dichtungen: sonst aber bestehn unter ihnen die merklichsten pwa_076.020
Unterschiede, und der Sammler und Umdichter der einen hat nicht pwa_076.021
das gleiche Mass künstlerischen Bewusstseins und freithätiger Geschicklichkeit pwa_076.022
besessen als die der andern.
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Den untersten Rang möchte die Iliade einnehmen. Ihr gebricht pwa_076.024
am meisten die rechte Einheit der Idee und des Inhaltes: all die pwa_076.025
hohen Schönheiten, womit sie Jeden gefangen nimmt, sind doch nur pwa_076.026
Schönheiten einzelner Glieder, nicht aber des ganzen Körpers, der pwa_076.027
aus diesen Gliedern zusammengesetzt worden. Der Beginn kündigt pwa_076.028
Achilleus als den Helden der Dichtung an: alsbald jedoch tritt er pwa_076.029
und sein Zorn in den Hintergrund, um erst gegen das Ende hin wieder pwa_076.030
von Bedeutung zu werden; mitten inne aber ist, nur mit vorübergehenden pwa_076.031
Rückblicken auf ihn, überhaupt von dem thatenreichen Kampfe pwa_076.032
die Rede, den Ilios und Griechenland nach den von Zeus gewogenen pwa_076.033
Loosen gegen einander bestehn. Daher auch der altherkömmliche pwa_076.034
Name Ilias, nicht Achilleis.
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Auf die Autorität der Iliade hin hat Fr. Schlegel behauptet, ein pwa_076.036
rechtes Epos müsse überall anfangen und überall schliessen; und wiederum pwa_076.037
nach ihr hat A. W. von Schlegel das Wesen der epischen pwa_076.038
Dichtung darin gesucht, dass sie einem Relief gleiche, dessen Figurenreihe pwa_076.039
ohne alle Gruppierung hinter einander fortlaufe, und mehr pwa_076.040
nach Zufall oder Willkür beginne und ende als nach innerer Nothwendigkeit. pwa_076.041
Zugegeben, dass ein gutes Relief so planlos gearbeitet
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