Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_055.001 pwa_055.004 pwa_055.014 pwa_055.020 pwa_055.027 pwa_055.033 pwa_055.038 pwa_055.001 pwa_055.004 pwa_055.014 pwa_055.020 pwa_055.027 pwa_055.033 pwa_055.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0073" n="55"/><lb n="pwa_055.001"/> führt sie ihn durch bis zur Negation des Widersprechenden, so überwältigt <lb n="pwa_055.002"/> sie Verstand und Gefühl gänzlich, und ihre Anschauungen werden <lb n="pwa_055.003"/> erhaben und grausenhaft.</p> <p><lb n="pwa_055.004"/> Das angegebene Verhältniss zwischen dem Mythus und dem <lb n="pwa_055.005"/> Märchen, dass also im Märchen die Ueberreste des erloschenen Götterglaubens <lb n="pwa_055.006"/> und der alten Göttersage fortbestehen, wollen wir uns <lb n="pwa_055.007"/> dadurch noch deutlicher zu machen suchen, dass wir einige deutsche <lb n="pwa_055.008"/> Märchen mit einander lesen und den mythologischen Grund derselben <lb n="pwa_055.009"/> kurz andeuten. Ich würde mich solcher Mittheilung überhoben glauben, <lb n="pwa_055.010"/> wenn jetzt und hier die nöthige Bekanntschaft vorauszusetzen <lb n="pwa_055.011"/> wäre. Und doch sind die Märchen reine schöne Erzeugnisse der <lb n="pwa_055.012"/> wahrsten, kindlich unschuldigsten Poesie: und der Freude an solchen <lb n="pwa_055.013"/> Dingen soll man auch in gereifterem Alter nicht entwachsen sein.</p> <p><lb n="pwa_055.014"/> Es glaubten auch die Deutschen gleich den Griechen und Römern <lb n="pwa_055.015"/> an drei Schicksalsgöttinnen, an drei Schwestern, die das Schicksal <lb n="pwa_055.016"/> der Menschen spinnen: der scandinavische Norden nennt sie Nornen. <lb n="pwa_055.017"/> In welcher Weise im deutschen Märchen diese altgermanischen Parcen <lb n="pwa_055.018"/> verwendet werden, zeigt das Märchen von den drei Spinnerinnen: <lb n="pwa_055.019"/> Br. Grimm Nr. 14.</p> <p><lb n="pwa_055.020"/> Die Edda erzählt, dass Ođin die Schlachtengöttin Brunhild mit <lb n="pwa_055.021"/> einem schlafanzaubernden Dorn gestochen und darauf die entschlafene <lb n="pwa_055.022"/> mit einem Flammenwall umgeben habe, den niemand durchdringen <lb n="pwa_055.023"/> konnte als Sigurd (Siegfried), der sie denn auch erweckte und erlöste. <lb n="pwa_055.024"/> Ein Nachklang dieses Mythus ist unser Märchen von Dornröschen, <lb n="pwa_055.025"/> das Uhland im Märchen von der deutschen Poesie nachgebildet hat: <lb n="pwa_055.026"/> Br. Grimm Nr. 50. LB. 2, 1429.</p> <p><lb n="pwa_055.027"/> Und nun endlich noch ein Märchen, das sich gleichfalls an die <lb n="pwa_055.028"/> alten Mythen und Sagen von Siegfried anlehnt, indem es von einem <lb n="pwa_055.029"/> bösen Schmied, von einem Golddrachen, einem Drachenberg und <lb n="pwa_055.030"/> Drachenkampf und der Befreiung einer Jungfrau erzählt, und das <lb n="pwa_055.031"/> zugleich besonders als Beispiel dienen kann, wie das Märchen Spott <lb n="pwa_055.032"/> und Laune und Wehmuth liebt: die zwei Brüder, Br. Grimm Nr. 60.</p> <p><lb n="pwa_055.033"/> Wenn wir nun endlich noch von der <hi rendition="#b">Thiersage</hi> sprechen, so meinen <lb n="pwa_055.034"/> wir dieselbe nicht als didactische Dichtung, als Thierfabel (so <lb n="pwa_055.035"/> gewendet, wird sie uns erst im weiteren Verlaufe unsrer Betrachtung <lb n="pwa_055.036"/> entgegen treten), sondern nächst der Sage, dem Mythus, dem Märchen <lb n="pwa_055.037"/> als vierte Form der rein epischen Anschauung.</p> <p><lb n="pwa_055.038"/> Das Alterthum betrachtete in seiner einfachen Natürlichkeit die <lb n="pwa_055.039"/> Thierwelt mehr mit religiösem und poetischem Auge, als wir das zu <lb n="pwa_055.040"/> thun gewohnt sind. Nicht dass der uncivilisierte Mensch dem Thiere <lb n="pwa_055.041"/> näher gestanden und sich aus eigener Thierheit ihm verwandt gefühlt </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0073]
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führt sie ihn durch bis zur Negation des Widersprechenden, so überwältigt pwa_055.002
sie Verstand und Gefühl gänzlich, und ihre Anschauungen werden pwa_055.003
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Das angegebene Verhältniss zwischen dem Mythus und dem pwa_055.005
Märchen, dass also im Märchen die Ueberreste des erloschenen Götterglaubens pwa_055.006
und der alten Göttersage fortbestehen, wollen wir uns pwa_055.007
dadurch noch deutlicher zu machen suchen, dass wir einige deutsche pwa_055.008
Märchen mit einander lesen und den mythologischen Grund derselben pwa_055.009
kurz andeuten. Ich würde mich solcher Mittheilung überhoben glauben, pwa_055.010
wenn jetzt und hier die nöthige Bekanntschaft vorauszusetzen pwa_055.011
wäre. Und doch sind die Märchen reine schöne Erzeugnisse der pwa_055.012
wahrsten, kindlich unschuldigsten Poesie: und der Freude an solchen pwa_055.013
Dingen soll man auch in gereifterem Alter nicht entwachsen sein.
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Es glaubten auch die Deutschen gleich den Griechen und Römern pwa_055.015
an drei Schicksalsgöttinnen, an drei Schwestern, die das Schicksal pwa_055.016
der Menschen spinnen: der scandinavische Norden nennt sie Nornen. pwa_055.017
In welcher Weise im deutschen Märchen diese altgermanischen Parcen pwa_055.018
verwendet werden, zeigt das Märchen von den drei Spinnerinnen: pwa_055.019
Br. Grimm Nr. 14.
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Die Edda erzählt, dass Ođin die Schlachtengöttin Brunhild mit pwa_055.021
einem schlafanzaubernden Dorn gestochen und darauf die entschlafene pwa_055.022
mit einem Flammenwall umgeben habe, den niemand durchdringen pwa_055.023
konnte als Sigurd (Siegfried), der sie denn auch erweckte und erlöste. pwa_055.024
Ein Nachklang dieses Mythus ist unser Märchen von Dornröschen, pwa_055.025
das Uhland im Märchen von der deutschen Poesie nachgebildet hat: pwa_055.026
Br. Grimm Nr. 50. LB. 2, 1429.
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Und nun endlich noch ein Märchen, das sich gleichfalls an die pwa_055.028
alten Mythen und Sagen von Siegfried anlehnt, indem es von einem pwa_055.029
bösen Schmied, von einem Golddrachen, einem Drachenberg und pwa_055.030
Drachenkampf und der Befreiung einer Jungfrau erzählt, und das pwa_055.031
zugleich besonders als Beispiel dienen kann, wie das Märchen Spott pwa_055.032
und Laune und Wehmuth liebt: die zwei Brüder, Br. Grimm Nr. 60.
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Wenn wir nun endlich noch von der Thiersage sprechen, so meinen pwa_055.034
wir dieselbe nicht als didactische Dichtung, als Thierfabel (so pwa_055.035
gewendet, wird sie uns erst im weiteren Verlaufe unsrer Betrachtung pwa_055.036
entgegen treten), sondern nächst der Sage, dem Mythus, dem Märchen pwa_055.037
als vierte Form der rein epischen Anschauung.
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Das Alterthum betrachtete in seiner einfachen Natürlichkeit die pwa_055.039
Thierwelt mehr mit religiösem und poetischem Auge, als wir das zu pwa_055.040
thun gewohnt sind. Nicht dass der uncivilisierte Mensch dem Thiere pwa_055.041
näher gestanden und sich aus eigener Thierheit ihm verwandt gefühlt
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